Oberhausen. Andrea Russo und Christin-Marie Below geben ein wichtiges „Zusammenlesebuch“ heraus: Es hilft Kindern, dunkle Geheimnisse ans Licht zu bringen.
Der Bucheinband zeigt ein riesengroßes Paket mit Schleife, klitzekleine Schmetterlinge – aber auch den weit aufgerissenen Rachen eines rüsselnasigen Monsters: Zwischen diesen Schemen steht ein kleiner Junge, blickt zurück über die Schulter auf seinen tiefen Schatten und legt den Zeigefinger an die Lippen: „Psst!“ heißt das so bildschöne wie wichtige Buch, herausgegeben von Andrea Russo und Christin-Marie Below – und zwar begleitet vom Kinderschutzbund.
Andrea Russo ist nach Berufsjahren als Förderschullehrerin heute mit ihrem „nom de plume“ Anne Barns eine erfolgreiche Autorin süffig zu lesender Unterhaltungsliteratur. Mit ihrer Tochter Christin-Marie Below – und mit der Buchreihe um das Vampirmädchen „Mirella Manusch“ – sicherte sich die Oberhausenerin auch einen Stammplatz in den Kinderbuchregalen. Doch hinter dem Geheimnis von „Psst!“ stecken nicht nur etliche weitere Autorinnen und Autoren sowie begnadete Zeichner – sondern auch eine größere Geschichte, ein Herzensanliegen der beiden Herausgeberinnen.
Die Idee eines „Zusammenlesebuches“ – das Kindern hilft und Mut macht, aber auch Eltern mit gutem Rat zur Seite steht – „hatten wir schon ziemlich lange“, erzählt Andrea Russo. Doch die ersten angesprochenen Verlage sagten ab („nicht kommerziell genug“). Mit der Programmleiterin von „Dragonfly“ aber fanden sie sich schnell auf einer Wellenlänge: „Jetzt passte es.“ Auf dem deutschen Buchmarkt ist dieser Kinder- und Jugendbuchverlag zwar noch ein Neuling; doch dahinter steckt die potente Verlagsgruppe Harper Collins.
Die Angst vor Taubes dunklen Schwingen
Schon auf den ersten Blick erscheint „Psst!“ als eine besondere Anthologie: großformatig und prächtig ausgestattet von der ersten Garde deutscher Zeichnerinnen und Zeichner – nicht zuletzt auch vom dank seines „Grüffelo“ berühmten Axel Scheffler. Beim Blättern allerdings begegnet einem immer wieder der Junge vom Titelbild, um vorlesende Eltern auf die nächste Geschichte einzustimmen: „In diesem Kapitel geht es um Mobbing.“ Oder ums Streitschlichten. Um eine freudige Überraschung. Oder, nämlich in Stefanie Taschinskis kurzer Geschichte für ganz junge Kinder: um sexualisierte Gewalt.
Kindgerecht, nicht explizit, wird die Angst des kleinen Katers Bruno vor Taubes dunklen Schwingen deutlich. Und mit einer Zeichnung wird die wortlose Angst des Katzenkindes zu einem „Bild für Mama und Papa“. Es ist große Zeichenkunst, wie Karsten Teich aus einem sonnigen Wimmelbild vom Spielplatz zum dunklen Schatten am Kinderbett führt.
Andrea Russo und Christin-Marie Below sind sichtlich stolz auf die namhafte Künstlerriege und deren Beiträge. Als Vorgabe hatten sie ihnen nur das Vorlesealter von sechs bis acht Jahren genannt und gespannt auf die Texte gewartet – zu denen auch einige der rätselhaft-humorvollen Vierzeiler des Grandseigneurs Frantz Wittkamp zählen. Gute Geheimnisse dürfen Kinder hüten. „Schlechte Geheimnisse“, sagt Christin Below, „muss man weitersagen, damit sie leichter werden.“
Enge Abstimmung mit dem Kinderschutzbund
Sie selbst erzählt ein traumatisches Erlebnis in der Quasi-Titelgeschichte „Das Psst!“: So heißt ein flauschiges Knuddelwesen in der Märchenwelt von „Geheimnisvollhausen“, dessen große Schwester ganz verstört aus dem Wald zurückkehrt.
Ein Erlebnis aus ihrer Grundschulzeit blieb Christin Below unvergesslich: Auf dem Schulweg hatte sich vor ihr und ihren Freundinnen ein Mann entblößt – doch von den vier Mädchen hatte nur Christin sich ihrer Mutter anvertraut. Auch Andrea Russo war „ganz entsetzt“, dass nur sie beide die Polizei informierten. Als Lehrerin einer Förderschulklasse hatten sich ihr mehrmals Kinder anvertraut, die sexualisierte Gewalt erlitten. Sie „ging dann zum Schulleiter und Jugendamt“, erzählt Andrea Russo, die „nicht versteht, dass alles so lange dauerte“, bis den Kindern in ihrer Not geholfen wurde.
Umso wichtiger war Mutter und Tochter als Herausgeberpaar jetzt die enge Abstimmung mit der Berliner Zentrale des Kinderschutzbundes. „Wir hatten regelmäßige Zoom-Meetings“, sagt Christin Below. Ihre Gesprächspartnerinnen in Berlin „waren bis in einzelne Worte unserer Texte sehr genau“, ergänzt Andrea Russo. So erhielt jede der elf Erzählungen für die erwachsenen Leser einen pädagogisch fundierten „Tipp“. Für die als Tierfabel verkleidete Gewalt-Geschichte „Bruno“ benötigten die Tipps dann zwei Seiten bis zum wichtigen Schlusssatz: „Machen Sie dem Kind klar, dass es niemals Schuld an sexuellem Missbrauch hat.“
Lustig und spannend erzählte Abenteuer
Die Arbeit an ihrem Herzensanliegen habe „Einfluss auf uns genommen“, bestätigen Mutter und Tochter. „Ich bin viel aufmerksamer“, sagt Christin Below, „achte darauf, was um mich herum geschieht“. Falls jetzt ein trüber Eindruck entstehen sollte: „Psst!“ ist keineswegs eine schwere, traurige Lektüre. Unter den elf Geschichten stecken lustig und spannend erzählte Abenteuer von Kindern, die sich was trauen: Sei es Harun, der nicht nur heimlich vor dem Spiegel auch mal im Kleid herumtanzen möchte. Oder Frankie, der trotzig und tapfer mit acht Jahren „Die ganze Ungerechtigkeit der Welt“ schultert. So heißt die Erzählung von Zoran Drvenkar, von der die beiden Herausgeberinnen am tiefsten beeindruckt waren.
Im Buch steht auch die „Nummer gegen Kummer“
Das Zusammenlesebuch „Psst!“ ist 208 Seiten stark, enthält elf Geschichten und sechs launige Gedichte – allesamt farbig und teils doppelseitig illustriert von anerkannten Kinderbuchgrößen. Jede Geschichte schließt mit einem „Tipp“ für die erwachsenen Leser. Die beiden letzten Seiten nennen „hilfreiche Kontakte“ im Internet und am Telefon – auch die „Nummer gegen Kummer“ für Kinder: 116 111.
Das schön gestaltete „Psst!“-Buch im festen Einband kostet 16 Euro, erhältlich in guten Buchhandlungen oder dort zu bestellen: ISBN ISBN 978-3-7488-0178-8.
Geplant war eine große Buchvorstellung für den heutigen Erscheinungstag im Hamburger „Theater für Kinder“ – doch die ist erst einmal verschoben. Andrea Russo und Christin-Marie Below würden natürlich ihr großes Werk auch gern im heimatlichen Oberhausen vorstellen.
„Durch die Coronakrise“, weiß Andrea Russo, „sind Kinder den Tätern noch schutzloser ausgesetzt“ – weil allzu oft das eigene Zuhause ein schlechtes Geheimnis birgt. Umso intensiver wünschen sich die Herausgeberinnen vernehmliche Resonanz auf ihr „Zusammenlesebuch“. Der Verlag hat zugesichert, sich nach Kräften einzubringen. „Das war jetzt der Anfang“, sagt Christin-Marie Below. „Wir haben noch viel vor.“