Oberhausen. Gerhard Steinberg hat bewegende Schicksalsschläge hinter sich. Als er seine Wohnung verlor, führte ihn sein Weg nach Oberhausen.

Entspannt blickt Gerhard Steinberg auf seinen Herd, hält kurz inne und öffnet dann eine Schublade. Ein Holzlöffel wird in die Käse-Lauch-Suppe getunkt und ruhig umgedreht. „Ich bin glücklich, dass ich jetzt wieder unabhängig bin“, erzählt der 44-Jährige.

Gerhard Steinberg ist eine dieser Personen, denen man ihre Lebensgeschichte nicht ansieht. Und doch: Hinter ihm liegen schwere Jahre und ein langer Weg der Selbstfindung, den er zum größten Teil im Oberhausener Carl-Sonnenschein-Haus verbracht hat, einem stationären Lebensort für Menschen, die auf der Straße leben mussten. Die Caritas betreibt das Haus. „Drei Jahre und einen Monat habe ich dort gelebt. Und ich habe mich sehr verändert. Das fällt einem selbst aber kaum auf.“

Autounfall in jungen Jahren reißt Gerhard Steinberg aus dem Leben

Gerhard Steinberg ist in Reken aufgewachsen, machte seine mittlere Reife. „Für das Fachabitur hatte ich keine Nerven.“ Auch eine Berufsausbildung nimmt er nicht in Angriff – Ende der 1990er Jahre arbeitet er als Müllmann. Ein schlimmer Autounfall reißt den damals 19-Jährigen schwer aus dem Leben. „Schädelbasisbruch, Halswirbelbruch, Schulterblattbruch und eine Lähmung im linken Arm“, lautet die Diagnose damals. „Der Arzt meinte, ich solle mich schon einmal auf die Rente einstellen. Dem hab ich den Vogel gezeigt.“

Lesen Sie mehr:

Die nächsten Jahre sind geprägt von Reha-Aufenthalten und Krankengymnastik, dazu mehrere Anläufe, wieder zu arbeiten. „Vier Versuche wurden entweder von mir oder von meinem Arbeitgeber abgebrochen. Ich kam mit dem Stress nicht klar und habe teilweise schwarzgesehen, wenn es zu viel wurde“, erzählt er heute offen. Im Jahr 2000 führt ihn sein Weg erstmals nach Oberhausen, er macht eine Umschulung im Berufsförderungswerk zum IT-Systemkaufmann. „Die EDV-Branche war nach den Anschlägen auf das World Trade Center allerdings am Boden.“ Viele Jahre fährt der junge Mann dann Taxi oder Bus in seiner Heimat, begleitet von einer Psychotherapie. „Durch meinen Autounfall litt ich unter einer posttraumatischen Belastungsstörung und Depressionen.“

100.000 Euro Steuerschulden begleiten ihn seit Jahren

2014 übernimmt er mit einem Bekannten ein Bordell in Dorsten – ein Jahr später folgt die Ernüchterung. „Das Finanzamt stand vor der Tür. Das Ergebnis waren 100.000 Euro Steuerschulden. Da ich als alleiniger Besitzer im Vertrag stand, bedeutete das meinen Ruin.“ Er fällt in ein Loch, zahlt keine Rechnungen mehr – und fliegt aus seiner Wohnung in Reken. „Ich bin abends in den Zug gestiegen und nach Oberhausen gefahren, habe die Nacht im Bahnhof verbracht.“ In Reken kann er nicht bleiben. „Dort bin ich ein gefallenes Kind.“

Fein herausgeputzt im Anzug steht er am nächsten Morgen im Carl-Sonnenschein-Haus an der Bebelstraße und bittet um ein Zimmer. „Ich habe mich schnell eingebracht, im Bewohner-Café für einen Euro in der Stunde gearbeitet und mich ehrenamtlich bei der Ruhrwerkstatt engagiert.“

Er nimmt an einem staatlich geförderten Programm teil, arbeitet mittlerweile seit mehreren Jahren in Vollzeit als Stromsparhelfer und unterstützt arme Haushalte dabei, Energie zu sparen. 2018 findet er eine Wohnung und wird heute nur noch ambulant von der Caritas betreut. Bedeutet: Seine Sozialarbeiterin besucht ihn einmal pro Woche und steht ihm zur Seite – beim Stellen von Anträgen oder bei Problemen mit den Ämtern. „Oft trinken wir aber auch einfach nur Kaffee“, schmunzelt er.

Zukunftsträume vom Reisen

Doch die Vergangenheit lässt ihn nicht ruhen – Steinberg muss sich um seine Privatinsolvenz kümmern. Auch während seiner Zeit im Carl-Sonnenschein-Haus hat er das Thema vor sich hergetragen. „Ich habe dichtgemacht. Immer wenn mich die Mitarbeiter im Haus gefragt haben, sagte ich einfach: ,Läuft’. Sie haben mir geglaubt.“ Erst als er eine neue Sozialarbeiterin zugeteilt bekommt, legt er die Fakten auf den Tisch. „Früher habe ich nie über meine Probleme gesprochen. Aber ich musste lernen, um Hilfe zu bitten. Seit Ende 2021 läuft die Insolvenz.“ Trotz seiner hohen Schulden ist er heute sogar dankbar. „Die Ämter haben mir keinen Stress gemacht. Wenn man in einer solchen Einrichtung unterkommen und sein Leben quasi wieder neu aufbauen muss, hat man ganz andere Dinge im Kopf.“

Auf die Zeit im Carl-Sonnenschein-Haus blickt er gerne zurück, hilft heute noch ehrenamtlich bei den jährlichen Novemberlichtern, oder besucht die Einrichtung zum gemeinsamen Spielenachmittag. Durch die Wohnung und seine zurückgewonnene Unabhängigkeit wagt Gerhard Steinberg, wieder zu träumen. Seit einiger Zeit fährt er, zusätzlich zu seinem Job, am Wochenende wieder Bus – in Wesel. Da die staatliche Förderung seiner aktuellen Arbeitsstelle im August ausläuft, hofft er, danach wieder ganz als Busfahrer arbeiten zu können. „Ich würde gerne wieder Reisebus fahren, mit Gruppen eine Woche oder zehn Tage durch Deutschland oder Europa reisen.“

Carl-Sonnenschein-Haus hilft Wohnungslosen

Das Carl-Sonnenschein-Haus betreut als stationäres Hilfsangebot wohnungslose und alleinstehende Menschen ab dem 21. Lebensjahr, die sich in Notsituationen befinden. Es gibt 80 Plätze, von denen in separaten Wohnbereichen acht Plätze für Frauen reserviert sind.Das Wohnangebot wird durch Kurse ergänzt. So haben die Bewohner z. B. die Möglichkeit, an beruflichen Integrations- und Qualifizierungsmaßnahmen teilzunehmen, um ihre Startchancen zu verbessern. Das Ziel: die Befähigung zur Selbsthilfe, zur Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft sowie zur Führung eines menschenwürdigen Lebens.Seit 2011 gibt es außerdem das Ambulant Betreute Wohnen. Zum Großteil sind dies ehemalige Bewohner des Carl-Sonnenschein-Hauses, so wie Gerhard Steinberg. Aber auch Menschen, die Unterstützung in ihren eigenen vier Wänden brauchen, sind willkommen. Wer Interesse am betreuten Wohnen hat, kann sich unter 0208 94 04 70 oder bewo-sonne@caritas-oberhausen.de informieren.