Oberhausen. Nach der Scheidung lebte Michael K. viele Jahre unter Brücken, sammelte Pfandflaschen. Nach einer überraschenden Begegnung schaffte er die Wende.
Michael K. lebte viele Jahre unter Brücken in Deutschland. Er fuhr mit seinem Fahrrad jeden Tag bis zu 40 Kilometer, schlief mal hier, mal dort. Die langen Touren wirkten auf ihn wie hemmungsloses Trinken. Sie betäubten Gedanken an Menschen, die etwas von ihm wollten. Ein Freund, dem er Geld schuldete. Mitarbeiter vom Arbeitsamt. Seine Familie. Als Corona ausbrach, kehrte der 48-Jährige zurück nach Oberhausen – er wollte zurück in die Stadt, in der er aufgewachsen war. Auf einem Spielplatz traf er einen Mann. Ohne diese Begegnung wäre er nicht wieder in eine Wohnung gezogen. In dieser Serie stellen wir Menschen aus Oberhausen vor, die positiv auf die Corona-Krise zurückblicken werden, weil sie – teilweise – sagen würden, es war die beste Zeit ihres Lebens.
„Nach der Trennung von meiner Frau habe ich angefangen zu spritten. Also richtig viel Alkohol zu trinken. Der Gerichtsprozess und die Gespräche mit den Anwälten wegen der Scheidung haben mich fertig gemacht. Wir lebten mit unserer Tochter in Rheinberg, in der Nähe von Duisburg. In einer Nacht stand ich auf einer Brücke. Ich habe mich gefragt, hopst du jetzt oder hopst nicht. Aber der Gedanke an die arme Sau, die mich aus dem Rhein ziehen müsste, hat mich abgehalten.
Nach Jahren des Herumirrens fand K. in Bad Segeberg wieder Halt – doch nur für kurz
Also bin ich nach Hause gegangen, habe zwei Sporttaschen gepackt. Jacke, Decke, Anziehsachen, Portemonnaie. Hab mich aufs Mountainbike gesetzt und bin losgefahren – den Rhein entlang bis nach Mannheim. Es muss 2007 oder 2008 gewesen sein. So bin ich auf der Straße gelandet. Ich kann selbst nicht erklären, warum ich keinen anderen Ausweg gefunden habe. Ich war am Ende. Mein Vater hat es, als ich noch ein Ursel war, ähnlich gemacht. Er meinte, er würde kurz Kippen holen – und kam nie wieder.“
Etwa vier Jahre fuhr Michael K. mit dem Fahrrad und einem Anhänger durch Deutschland, landete erst in München, dann in Garmisch-Partenkirchen. Nirgends fand er den Neuanfang, er blieb obdachlos – bis er 2010 zu einem Bekannten nach Bad Segeberg fuhr, den er im Internet kennenlernte. Seinen vollen Namen will er nicht in der Zeitung lesen, weil er mit einigen Familienmitgliedern zerstritten sei, vor ihnen sei ihm seine Geschichte unangenehm.
„In Bad Segeberg habe ich eine Wohnung gefunden und einen Job als Möbelpacker. Nach meinem Hauptschulabschluss, also viele Jahre vorher, habe ich eine Ausbildung auf der Friedrich-Heine-Zeche in Kamp-Lintfort gemacht – als Schlosser. In Bad Segeberg arbeitete ich auch in einem Sozialkaufhaus, in dem ich meine Freundin kennenlernte.
Wir waren schon anderthalb Jahre zusammen, als sie plötzlich vor dem Fernseher zur Seite kippte. Ich habe sie zum Krankenhaus gebracht. Kurz darauf haben wir es erfahren. Sie hatte Krebs. Leukämie. Ein halbes Jahr lang bin ich mehrmals in der Woche mit dem Rad die 50 Kilometer von Bad Segeberg zur Uniklinik in Kiel gefahren. 2014 ist sie gestorben. Das war mein Absturz. Ich habe wieder angefangen zu spritten, an einigen Tagen zwei Flaschen Vodka und eine Kiste Bier, bis das Gehirn zu mir gesagt hat: Jetzt ists dunkel, jetzt musst du nicht mehr denken.
Die Fahrradtouren wehrten negative Gedanken ab
Ich habe mich in meine Wohnung eingenistet, mir war alles egal. Der Postbote hat gegen meine Tür getrommelt und geschrien, ich sollte den scheiß Briefkasten leeren – war mir egal. Das Amt schickte mir einen Antrag auf Weiterbewilligung – war mir egal. Zum Briefkasten bin ich nur noch mit einem blauen Sack: Klappe auf, alles rein, Mülltonne, vier Wochen Ruhe.“
Als Michael K. vom Tod seiner Freundin erzählt, tränen seine Augen. Er ist ein zügiger und guter Erzähler, er berichtet anschaulich und detailliert. Er wirkt stark und etwas rau. Bei dem Thema stockt er. Er zieht seine Cappy ab, streicht mit der Hand über seine wenigen Haare. Er atmet Luft tief in seinen massigen Oberkörper und sucht nach Worten.
„Nach einigen Wochen habe ich versucht, eine Psychotherapie zu machen. Aber ich konnte mich dem Psycho-Heini nicht öffnen, nachdem er schon in der ersten Stunde meine Krankenkassenkarte sehen wollte. Also bin aus Bad Segeberg abgehauen. In den Jahren danach habe ich wieder auf der Straße gelebt. Ich bin mit dem Fahrrad von Stadt zu Stadt gefahren. Fahrrad fahren, wehrt negative Gedanken genauso gut ab, wie spritten. Wenn ich mir über irgendwas einen Kopp gemacht habe, musste ich nur fünf Kilometer radeln, dann habe ich aufgehört zu grübeln. Bin ich an einem Haus mit Pool vorbeifahren, konnte ich lachen: Er hat so einen Klotz am Bein und ich bin frei, dachte ich. Und nebenbei habe ich auf den Touren Pfandflaschen gefunden, so dass ich nicht betteln musste.
Die Schattenseiten des Lebens auf der Straße
Ich habe den Tag so gelebt, wie ich das wollte. Wenn ich genug Geld zusammen hatte, habe ich mir eine Dose Ravioli im Supermarkt gekauft und sie mir auf meinem Gaskocher gekocht. An guten Tagen habe ich mir auch eine Pizza im Restaurant geholt. Ich bin auf Baustellen auf Dixiklos gegangen, da ist immer Klopapier und niemand beschwert sich.“
Es ist erstaunlich, wie positiv Michael K. von der Obdachlosigkeit berichtet. Wenn er die Vorteile vom Leben auf der Straße aufzählt, hat man den Eindruck, er macht sich selbst etwas vor. Man muss mehrmals nachfragen, bis er auch die Schattenseiten beschreibt. Trotz seines jahrelangen harten Straßenlebens wirkt er gesund, sein Gesicht sieht nicht verlebt aus.
„An meinem Fahrrad hatte ich einen Anhänger, in dem ich meinen ganzen Hausstand transportiert habe: Hammer, Zange, und Astsäge, um das Fahrrad zu reparieren. Schnüren, eine Plane gegen Regen, Decke, Anziehsachen, mein Portemonnaie mit meinen abgelaufenen Dokumenten und mein Taschenmesser.
Ich hatte immer drei volle Wasserflaschen dabei, die ich auf Friedhöfen aufgefüllt habe. Im Notfall habe ich auch das Wasser aus dem Rhein getrunken. Um mich zu waschen, bin ich den Kanal gerannt, einmal kurz geschüttelt und gut war’s. Wenn man draußen schläft, ist es wichtig, dass man mit dem Rücken an etwas Stabilem schläft, ein einem Pfeiler, einer Bank oder einer Wand, dann kann einem niemand ohne Vorwarnung in den Rücken treten. Mein Fahrrad mit Anhänger habe ich so vor mich gestellt, dass es rappelt, falls mich jemand angreifen sollte. Ich habe gelernt, nur in Maßen Alkohol zu trinken: Sprittet man sich nämlich weg, ist man Kälte, Regen und Angriffen ausgeliefert. Am schlimmsten war es für mich, Weihnachten und am Geburtstag auf der Straße zu sein, so ganz allein. Da habe ich es nicht geschafft, nicht an meine Freundin zu denken.
Eine zufällige Begegnung auf einem Spielplatz verschaffte ihm eine Wohnung
Und dann hatte ich plötzlich keinen Bock mehr auf der Straße zu leben. Da war auf einer Tour von Unna nach irgendwohin, kurz nachdem Corona losging. In der Nacht hatte ich auf dem Parkplatz eines Fußballvereins geschlafen. Am Morgen hat mir der Platzwart alte T-Shirts gebracht, die Leute in der Umkleide vergessen haben. Irgendwas hat das in mir ausgelöst.“
Unter einer Brücke in Sterkrade hat er sich ein Zelt aus Bauzäunen gezimmert, von dem er weiterhin Touren gefahren ist, um Flaschen zu sammeln. Die Menschen, die in den umliegenden Häusern lebten, mochten ihn. Eine Frau brachte ihm eine Liege vorbei, andere kauften bei Netto für ihn ein.
„Im Herbst 2020 habe ich mich an einem Spielplatz in Oberhausen unter einen Pavillon gestellt, es regnete. Ich bin mit einem Mann ins Gespräch gekommen. Wie es der Zufall wollte, kannte er meinen Cousin. Er hat ihm sofort eine Nachricht geschickt – eine halbe Stunde später stand er vor uns. 30 Jahre lang hatte ich ihn nicht gesehen.
Am Anfang durfte ich ein paar Nächte bei ihm in Schmachtendorf schlafen. Er hat mir in den Arsch getreten, meinte, ich muss mein Leben wieder auf die Reihe kriegen. Er hat dann einen Kontakt zur Diakonie in Oberhausen hergestellt. Bei der Diakonie hatte ich wieder eine Postanschrift, ich konnte mich arbeitslos melden, ein Konto eröffnen. Es war die Hölle, das erste Mal ins Arbeitsamt reinzugehen und zu sagen: bitte, bitte, bitte. Die Diakonie hat mir eine Wohnung in Tackenberg vermittelt. Den Mietvertrag habe ich im Februar 2021 vor meinem Zelt unter der Brücke in Sterkrade unterschrieben. Ich kann nicht sagen, dass ich dem Moment Glück gefühlt habe.
„Ich will wieder mein eigenes Geld verdienen“
In der ersten Nacht in der Wohnung fehlte mir das Autobahngerappel – die Lkws, die über die Brücke donnern. Mindestens einmal in der Stunde habe ich den Kopf hoch gemacht, um zu schauen, ob sich was regt. Neben meinem Bett habe ich auch wie früher die Taschenlampe, mit der ich im Notfall zuschlagen kann.
So viele Obdachlose leben in Oberhausen
Nach Angaben der Stadt sind 68 Menschen in Oberhausen obdachlos – sechs bis acht von ihnen schlafen dauerhaft auf der Straße. Die Stadt unterhält für Obdachlose eine Unterkunft an der Wewelstraße mit einer Kapazität von 45 bis maximal 60 Plätzen, unterteilt in 14 Wohneinheiten. Die Unterkunft beherbergt Familien mit Kindern, Paare und Alleinstehende. Aktuell seien 27 Plätze belegt. Die Strategie der Stadt, Obdachlosigkeit zu bekämpfen, beruht auf dem Grundsatz: ambulant vor stationär. Soll heißen: Sie bietet Wohntraining an, vermittelt Wohnungen, berät Obdachlose. Auf diese Weise sei es ihr gelungen, die Anzahl der Obdachlosenunterkünfte von 15 Standorten im Jahr 2000 auf einen Standort zu reduzieren.
In der Wohnung fühle ich mich wohl. Ich habe zwei Zimmer, eine kleine Küchenzeile, sogar einen Balkon. Bisher fehlt mir ein Bett, die Matratze liegt auf dem Fußboden. Ich richte mich immer weiter ein. Mit dem Fahrrad fahre ich kaum noch. Stattdessen gehe ich viel spazieren. Noch immer sammele ich Pfandflaschen.
Ich kann nicht sagen, dass ich stolz auf mich bin. Es ist ja keine Leistung auf der Straße zu landen und dann wieder davon wegzukommen. Ich würde sagen, ich habe es geschafft, wieder ein Bein auf den Boden zu setzen. Jetzt ist es wichtig, nicht mehr vom Staat leben zu müssen. Ich will endlich wieder mein eigenes Geld verdienen. Ich hätte Lust, Bagger zu fahren oder als Landschaftsgärtner zu arbeiten. Ich hab‘ ja noch ein paar Jahre vor mir.“