Oberhausen. Politikwissenschaftler Martin Florack über Missverständnisse in der Politik: „Die Entscheidung über die künftige Regierung liegt nicht bei uns.“

Oberhausens bekanntester Export unter den Politikexperten, Dr. Martin Florack, hat sich in den vergangenen Monaten intensiv mit der Frage beschäftigt, was die Corona-Politik für die Stellung unserer Grundgesetze und das Regieren im Dauerkrisenmodus für unsere Demokratie bedeutet. Vor der Bundestagswahl 2021 werfen wir mit dem Politikwissenschaftler und Research Fellow der NRW School of Governance einen Blick auf Gefahren für die Demokratie und den Corona-Wahlkampf, Missverständnisse in der Politik und den Einfluss, den wir Wähler wirklich auf die nächste Regierung haben.

Herr Florack, sind wir in der Coronakrise zu sorglos mit unseren Grundrechten und der Demokratie umgegangen?

Martin Florack: Ich glaube nicht, ich habe hier kein fundamentales demokratisches Defizit erkannt. Wir haben als Einzelne auch weiterhin Möglichkeiten, uns rechtsstaatlich gegen die Einschränkungen der Grundrechte zu wehren. Die Frage der Verhältnismäßigkeit der Corona-Maßnahmen wurde durchgehend und kritisch diskutiert. Umgangen wurde auch das Parlament nicht. Parlamentarische Verfahren wurden zwar beschleunigt – aber das ist passiert, weil das mehrheitlich so entschieden wurde.

Also ist unsere Demokratie im Krisenfall nicht in Gefahr?

Grundsätzlich sind Demokratien immer in Gefahr. Das ist ihr Normalzustand. Die Demokratie ist ein fragiles System, das von unserer permanenten Bestätigung und Vertrauen in ihre Funktionsweise lebt. Und auch in der Coronakrise gab und gibt es hier besondere Gefahren.

Politikwissenschaftler Martin Florack: „Das Wesen der Politik ist nicht, immer genau das Richtige zu tun oder das zu tun, was die Wissenschaft vorgibt.“
Politikwissenschaftler Martin Florack: „Das Wesen der Politik ist nicht, immer genau das Richtige zu tun oder das zu tun, was die Wissenschaft vorgibt.“ © FUNKE Foto Services | Kerstin Bögeholz

Welche sind das?

Da sind zum einen diejenigen, die sich in einer Anti-System-Position radikalisieren: die Querdenker, die in kürzester Zeit extrem abgedriftet sind. Aber – und das bildet eine Brücke zur Klimakrise – da sind auch diejenigen, die der Annahme folgen, dass die Wissenschaft sachgerechte Vorschläge macht und jeder dazu gebracht werden muss, diese Vorschläge anzunehmen. Diese Vorstellung mag zwar erst einmal vernünftig klingen, aber hier zeigt sich ein sehr technokratisches Verständnis von Politik und ein kolossales Missverständnis darüber, was Politik in einer Demokratie eigentlich tut. Das Wesen der Politik ist nicht, immer genau das Richtige zu tun oder das zu tun, was die Wissenschaft vorgibt. Aufgabe von Politik ist es, Interessen auszugleichen und dann zu Werturteilen und vor allem Mehrheiten zu kommen. Und wir wählen diejenigen, die das tun. So gesehen haben wir es auch zumindest indirekt mitzuverantworten, dass in den letzten Jahren zu wenig gegen die Klimakrise getan wurde.

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Klimakrise, Coronakrise, Euro- Banken- und Flüchtlingskrise: Was macht dieser dauerhafte Krisenmodus mit uns und der Politik?

In der Tat sind wir aus einem permanenten Krisenmodus in den letzten Jahren gar nicht mehr herausgekommen. Das war das Lebenselixier von Angela Merkel, ihr Politik-Stil wurde zunehmend darauf ausgerichtet. In einer Krise entwickeln sich politische Handlungsoptionen, aber dauerhaft von einer Krise zu sprechen, ist auch problematisch. Das sieht man bei Corona. Die Politik steht vor dem Dilemma, dass die Pandemie nicht vorüber ist, aber manche das Gefühl haben, sie sei vorüber – weil sie lange geimpft sind, weil sich in weiten Teilen ein normales Leben eingestellt hat. Die Krisenrhetorik aber bleibt und nutzt sich in ihrem inflationären Gebrauch so weiter ab. Eigentlich zeichnen sich Krisen dadurch aus, dass sie auch irgendwann enden.

Man hat nicht unbedingt den Eindruck, als wäre die Pandemie das vorherrschende Wahlkampfthema. Lässt sich mit Corona kein Wahlkampf machen? [Lesen Sie auch: Was der Bund endlich für Oberhausener Bürger anpacken muss[

Offensichtlich nicht, weil die Parteidifferenzen nicht groß genug sind. Man ist sich - abgesehen von der AfD - ja einig, was das Ziel angeht und kann sich höchstens über die Instrumente streiten. Trotzdem ist Corona auf unterschwellige Ebene sehr präsent. Es stehen bei dieser Wahl sehr unterschiedliche Erwartungshaltungen im Raum. Einerseits gibt es in einem Teil der Wählerschaft eine starke Sicherheitsorientierung, den Wunsch danach, dass nach der Pandemie nicht noch etwas anderes auseinanderbricht. Auf der anderen Seite gibt es die Erwartung, dass man nach Corona etwas fundamental anders machen muss. Und das zeigt sich auch in der Art und Weise, wie sich die Parteien und ihre Spitzenkandidaten präsentieren.

Aktuelles Buch „Coronakratie“

Martin Florack ist Mitherausgeber des Buches „Coronakratie: Demokratisches Regieren in Ausnahmezeiten“, das im März 2021 im Campus-Verlag veröffentlicht wurde. Die Aufsätze in dem Werk gehen Fragen nach wie: Was macht die Pandemie mit unserem politischen System? Wie widerstandsfähig und belastbar zeigt sich das Politikmanagement in Deutschland seit März 2020? Und wie anfällig ist unsere moderne Risikogesellschaft?

Eine aktuelle Analyse von Florack zu diesen Themen, die in Zusammenarbeit mit der DGB- und VHS-Gemeinschaft „Arbeit und Leben“ entstanden ist, gibt es als Online-Video unter folgendem Link: www.youtube.com/watch?v=PN8jud9fRxI.

Diese Sicherheitsorientierung wird derzeit wohl am besten von SPD-Kanzlerkandidaten Olaf Scholz repräsentiert. Rechnen Sie damit, dass sich die plötzliche Zustimmung für Scholz in den Umfragen auch in den Erstwahlstimmen für die sozialdemokratischen Direktkandidaten niederschlagen wird? Bleibt das Ruhrgebiet also dank Scholz tiefrot? [Lesen Sie auch: Bundestagswahl: Diese Kandidaten treten in Oberhausen an]

Die Effekte durch die Personalisierung würde ich nicht überbewerten. Wir wissen aus der Forschung, dass das Wahlverhalten von Parteien und weniger von Personen geprägt ist. Das gilt nicht nur für die Direktkandidaten, sondern auch für die Kanzlerkandidaten. Die einzige Wahl, bei der wir so etwas messen konnten, war die Bundestagswahl 2013, da gab es den spürbaren Merkel-Bonus. Das fällt aber in diesem Jahr aus, weil erstmals eine Kanzlerin nicht wieder zu einer Wahl antritt. Die These einer umfassenden Personalisierung des Wahlverhaltens ist einer der bestgepflegten Mythen. Es geht nicht hautsächlich um die Frage, ob ein Kandidat sympathisch ist oder nicht - sondern um die Frage, ob dieser zur Partei passt und ob das Gesamtpaket aus Partei, Programm und Personal passt.

Es gibt zig Optionen für Koalitionen. Welche Konsequenzen hat das fürs Wahlverhalten?

Man sollte sich klar machen: Wir werden am 26. September eigentlich keine direkte Wahlentscheidung treffen, wir werden nur eine Ausgangslage für die folgenden Gespräche produzieren. Niemand von uns kann kalkulieren, was unsere Stimme wirklich auslöst – ob eine Ampelkoalition, Jamaika, eine Deutschlandkoalition oder doch Rot-Rot-Grün dabei herumkommt. Und weil die Parteien wenig bis gar nichts ausschließen, müssen wir damit leben, dass die Entscheidung über die künftige Bundesregierung nicht bei uns Wählern liegt. [Lesen Sie auch:Warum den einstigen Volksparteien ihre Wähler weglaufen]