Oberhausen. Aus eigener Kraft schafft es die Stadt Oberhausen nicht mehr, die Lebensqualität der Einwohner zu erhöhen. Hier muss der Bund handeln.

Während sich der Bundestagswahlkampf trotz aller tatsächlicher und prognostizierter Krisen weitgehend inhaltsleer dahinschleppt, haben die ersten Oberhausener Bürger bereits Wochen vor dem eigentlichen Urnengang gewählt: Die Briefwahlunterlagen sind raus, gerechnet wird in einigen Städten mit mehr als 50 Prozent Briefwähler – historischer Rekord. Doch viele Wähler sind noch unentschlossen.

Wer seine Wunschpartei auf dem Stimmzettel nicht unbedingt danach ankreuzt, wie gut deren Politikerinnen und Politiker in Büchern abgeschrieben haben, wie sehr sie unglücklich gefilmt wurden oder wie bemüht sie in Wahlwerbespots singen, muss sich mit dem Inhalt der Parteien beschäftigen: Was wollen sie für Deutschland und deren Bürger erreichen?

Das ist angesichts der zum Teil äußerst schwammigen Formulierungen in Wahlprogrammen und Interviews nicht einfach, doch eine Hilfe könnte sein, wenn man die immerhin von vielen Delegierten der Parteien abgenickten Texte mit einer besonderen Fragestellung liest: Was müssen die Bundesparteien eigentlich tun, um die Lebensqualität vor Ort zu verbessern? Was muss der Bund tun, damit das Ruhrgebiet, damit hoch verschuldete Städte wie Oberhausen wieder mehr Luft zum Atmen haben? Die Redaktion hat einige dieser unbedingt zu lösenden Themenfelder zusammengestellt.

Altschulden

Der Verlust von 60.000 Industriearbeitsplätzen in den vergangenen 50 Jahren, die mühsame Ansiedlung neuer Betriebe – das sorgt für hohe Soziallasten bei geringen Steuereinnahmen. Oberhausen hat so 1,9 Milliarden Euro Schulden aufgetürmt – auf jedem Einwohner lasten rein rechnerisch über 9500 Euro an Darlehen. Mit massiven Kürzungen und Steuererhöhungen zum Nachteil der Bürger konnte der Anstieg der Steuerlast seit 2011 gebremst werden. Selbst in extremen Niedrigzinsphasen wie in diesen Zeiten zahlt Oberhausen für seine Kredite noch 26 Millionen Euro an Zinsen. Gerade beginnen die US-Notenbanker, den Durchfluss ihrer Geldhähne langsam zu verringern, ein Zinsanstieg droht: Doch steigt der Kreditzins im Schnitt nur um einen einzigen Prozentpunkt, so kostet dies die Stadt 19 Millionen Euro im Jahr mehr. Ohne eine gemeinsame Kraftanstrengung von Bund und Land ist diese Schuldenlast für Oberhausen niemals mehr abzubauen – und behindert die Stadt, ausreichend in die Zukunft zu investieren. Bisher sind alle Versuche aber gescheitert.

Gewerbesteuer

Die Gewerbesteuer müsste stabilisiert oder gar durch eine andere verlässliche Finanzquelle abgelöst werden: Normalerweise würde die Stadt Oberhausen 100 Millionen Euro im Jahr an Steuern von Betrieben kassieren, doch gerade die Pandemie hat gezeigt, wie schnell äußerliche Faktoren die Einnahmequelle wegbrechen lassen.

60.000 Industriearbeitsplätze in den vergangenen 50 Jahren hat Oberhausen verloren. Hochqualifizierte und gut bezahlte Arbeitsplätze wie hier im Werk von MAN Energy Solutions (MAN ES) in Sterkrade gibt es im Stadtgebiet zu wenig.
60.000 Industriearbeitsplätze in den vergangenen 50 Jahren hat Oberhausen verloren. Hochqualifizierte und gut bezahlte Arbeitsplätze wie hier im Werk von MAN Energy Solutions (MAN ES) in Sterkrade gibt es im Stadtgebiet zu wenig. © WAZ FotoPool | Kerstin Bögeholz

Zudem ist die Wirtschaft heutzutage international so vernetzt, dass sich weltwirtschaftliche Ereignisse, aber auch globale Entscheidungen eines Konzerns auf die Gewerbesteuer massiv niederschlagen – ohne dass die Kommunen hier einen nennenswerten Einfluss hätten. Ein Beispiel ist Amazon: Der Online-Händler nutzt die Straßen der Städte intensiv, zahlt aber hier keine Steuern. Die Haushalts-Sparpolitik zwingt gerade Kommunen mit hohen Soziallasten zu noch höheren Gewerbesteuersätzen, die Investoren abschrecken. Ein Teufelskreis. Den können nur Bund und Länder durchbrechen.

Langzeitarbeitslosigkeit

In den vergangenen Jahren vor der Pandemie ist die Arbeitslosigkeit in Oberhausen tatsächlich erfolgreich reduziert worden. Derzeit sind aber wieder über 6300 Menschen mehr als ein Jahr ohne Job; insgesamt suchen knapp 15.500 Bürger eine Arbeit. Die Arbeitslosigkeit belastet Oberhausen finanziell ungemein – auch wenn der Bund jetzt durch Entscheidungen der Großen Koalition im Juni 2020 mit 75 Prozent einen deutlich höheren Teil der Unterkunftskosten (Miete) für Hartz-IV-Empfänger übernimmt als früher mit 50 Prozent. Diese Unterkunfts-Entscheidung des Bundes bringt Oberhausen übrigens zwölf Millionen Euro jährlich ein.

Soziallasten

Oberhausen gibt im Jahr fast 900 Millionen Euro aus. Über 40 Prozent davon sind jedoch keine Zukunftsinvestitionen in die Infrastruktur oder für Gewerbeansiedlungen, sondern müssen in Sozialleistungen gesteckt werden (rund 350 Millionen Euro), um das Schlimmste zu verhindern: Für die Kinder von schwierigen Familien, für Arbeitslose, für die Gesundheitsvorsorge, für die Umlage Landschaftsverband Rheinland (Schwerbehinderte, Psychiatrie). Entstanden sind diese Sozialkosten nicht hauptsächlich durch Fehlverhalten der Städte (das gab es allerdings auch), sondern vor allem durch den umwälzenden Strukturwandel der Weltwirtschaft, den einzelne Kommunen nicht beeinflussen können. Ohne eine bessere Verteilung der Steuereinnahmen des Bundes an die Städte mit besonders hohen sozialen Lasten ist eine finanzielle Sanierung von Kommunen wie Oberhausen nicht möglich.

Flüchtlinge

Seit 2015 hat Oberhausen nach dem üblichen Königsteiner Verteilungsschlüssel über 5000 Flüchtlinge aufgenommen, die integriert werden müssen. Immer noch bleiben die Kommunen auf einem Teil der Kosten für neu angereiste Flüchtlinge und für Asylbewerber im Duldungsstatus sitzen, wenn Letztere nach Ablehnung des Asylantrags länger als drei Monate in der Stadt wohnen.

Einheitskosten

Während sich ostdeutsche Großstädte rühmen, schuldenfrei zu sein (seit 15 Jahren: Dresden) oder eine extrem niedrige Pro-Kopf-Verschuldung haben (Jena: 880 Euro), zahlte Oberhausen seit 1991 gut 300 Millionen Euro in den Fonds Deutsche Einheit – finanziert per Kredit. Zumindest dieses Geld müsste nach der Sanierung Ostdeutschlands wieder im Rahmen eines Aufbaus West zurückfließen – der Bedarf im Ruhrgebiet ist klar höher als in den Großstädten des Ostens.

Bildung

In einer zentralen Frage sind sich die Ökonomen einig: Bildung ist für Staaten mit geringem Rohstoff-Aufkommen der Schlüssel, um Wohlstand dauerhaft zu erringen. Deshalb muss Deutschland genau in die Stadtviertel verstärkt investieren, in denen bildungsferne Familien leben. Die Ausstattung mit guten Schulen, besten Lehrern und fitten Sozialarbeitern muss in Städten wie Oberhausen überproportional erfolgen.

Warum gibt es in schwierigen Quartieren nicht dauerhaft öffentlich kostenlosen Nachhilfe-Unterricht, um schwächere Schüler zu stützen?
Warum gibt es in schwierigen Quartieren nicht dauerhaft öffentlich kostenlosen Nachhilfe-Unterricht, um schwächere Schüler zu stützen? © FUNKE Foto Services | Ingo Otto

In Akademiker-Haushalten studieren die meisten Kinder ohnehin später automatisch, in Nicht-Akademiker-Haushalten selten. Warum gibt es in schwierigen Quartieren nicht dauerhaft öffentlich kostenlosen Nachhilfe-Unterricht, um schwächere Schüler zu stützen, wie es jetzt durch die bildungspolitischen Verheerungen der Pandemie erfolgt? Hier muss sich der Bund noch stärker in das bisher ureigene Themenfeld der Länder einmischen – aus nationalem volkswirtschaftlichen Interesse.

Infrastruktur

Im Vergleich zu Städten wie Toronto, Paris oder Kopenhagen hinkt die Infrastruktur für Busse, Bahnen, Fahrräder, aber auch für Autos und Daten in den deutschen Metropolregionen hinterher. Konsequenter müssen Projekte nach dem Kosten-Nutzen-Faktor aus nationalen Mitteln gefördert werden. Nirgendwo sonst als in Ballungsgebieten lohnt es sich so sehr, in Infrastruktur zu investieren. Im Gegensatz zu teuren Ortsumgehungen für Kleindörfer würde man die Lage sofort für Millionen Menschen und Tausende von Unternehmen verbessern.

Klimaschutz

Warum macht man eigentlich nicht das Ruhrgebiet zur Modellregion Klimaschutz für Europa? Bei so vielen Menschen in einem Ballungsraum würden sich Investitionen mehrfach auszahlen, die Effekte, Kohlendioxid einzusparen, würden sich multiplizieren. Beispielsweise könnte man hier flächendeckend testen, wie sich ein kostenloser und ausgebauter Nahverkehr für die Umwelt auswirkt: Viel mehr Menschen als heute würden auf Autofahrten verzichten. Warum spendiert man nicht beispielhaft für ganze Quartiere Wissen und Geld, um Dächer und Hauswände zu begrünen? Warum baut man nicht hier Wasserstoff-Zentren für eine weniger klimaschädliche Stahl- und Zementproduktion? Warum bringt man nicht die Erfahrungen des Bottroper Innovation-City-Projekts in der gesamten Region schneller voran – auch mit finanziellen Lockangeboten, nicht nur durch Beratungen?