Oberhausen. Mit ihrem zweiten Kind schwanger – und dann erhielt die Mutter in der Pandemie die Schocknachricht: Krebs. Am Ende hat sie Glück trotz Corona.
Yvonne Brune versucht das erste Gefühl zu verdrängen, dass in ihrer Brust etwas wuchert, was dort nicht hingehört. Sie sitzt im Auto mit ihrem Mann im Oktober 2020 auf dem Weg zur Arbeit. Bewegt sie den Oberkörper, spürt sie einen Druck in der rechten Brust.
Sie beruhigt sich mit dem Gedanken, dass sie schwanger ist. Vielleicht, denkt sie, ist der Knubbel eine Folge davon, dass die Brustdrüsen sich auf die Milchproduktion einstellen. Dann fragt sie ihren Mann, ob er ihn auch ertasten kann. Er fühlt den Knubbel. „Der Moment war wie ein Blitz. Ab dann war mir klar: Ein Fremdkörper steckt in mir,“ erzählt sie einige Monate später am Telefon. Kurz nach der Autofahrt, an einem Mittwoch, entnehmen Ärzte Gewebeproben aus der Brust.
Als die Ärztin Freitagabend im September anruft und sagt, sie habe keine guten Nachrichten, verschwimmt für Brune alles. Sie kann sich kaum auf das Gespräch konzentrieren, kämpft mit den Tränen. Sie legt auf und informiert ihre Eltern. Am Abend liegen sie sich in den Armen. „Gemeinsam werden wir es schaffen“, tröstet die Mutter.
Ein bösartiger, schnellwachsender Tumor in der Brust
Ein bösartiger, schnellwachsender Tumor hat ihre Brust befallen. Nach der Diagnose folgen unzählige Untersuchungen, Arztgespräche, die Chemo, die Operation, die Bestrahlung. Oft sitzt die 36-Jährige verzweifelt zu Hause in Osterfeld, wartet auf das nächste Ergebnis. Sie hat Angst, ihr Leben – ihre kleine Familie – zu verlieren, die sie sich gerade mit erbitterter Hingabe aufbaut. Doch ihre größte Sorge gilt dem Kind in ihrem Bauch. Brune ist erst zehn Wochen schwanger, als sie die Diagnose erfährt. Gibt es eine Chance, dass ihr Baby auf die Welt kommt? Gesund?
Brune hatte schon bei ihrem ersten Kind Emil Probleme, schwanger zu werden. Neun Jahre kämpft sie für die Schwangerschaft, rennt von Arzt zu Arzt, nimmt Hormone ein, bis sie eine Kinderwunschklinik findet, die ihr helfen kann. Es klappt. Nach der Geburt des ersten Kindes sagen ihr die Ärzte, dass sie sich beeilen muss, wenn sie ein zweites Kind möchte. Brune möchte unbedingt noch ein Kind. Sie nimmt zwei Jahre nach der ersten Schwangerschaft wieder Hormone ein. Doch wieder gibt es Probleme. Die Hormone verhindern nun, dass sich Eizellen bilden. Sie sucht nach der Ärztin, der es beim ersten Mal gelang, dass sie schwanger wurde. Sie findet sie im Internet, die Medizinerin arbeitet nun in Recklinghausen. Brune bekommt einen Termin für Dezember 2020.
Schicksal? Ein vorgezogener Termin bei der Ärztin
Doch dann passiert das, das Brune rückblickend Schicksal nennt. Die Ärztin erinnert sich an ihre ehemalige Patientin und zieht den Termin auf August vor. Hätte Brune den Termin erst im Dezember wahrgenommen, wäre in der Zwischenzeit mit großer Wahrscheinlichkeit ihr Brustkrebs entdeckt worden, was ihren Kinderwunsch begraben hätte. „Dieser Wink vom Schicksal hat mich während Chemo aufgebaut. Wenn ich kurz vor dem Zusammenbrechen war, dachte ich, aber irgendjemand wollte doch, dass ich das Kind bekomme, sonst hätte ich den Termin nicht früher erhalten.“ Schon bei der ersten Sitzung gelingt es der Ärztin eine Eizelle zu entnehmen, sie zu befruchten und zurück in Brunes Körper zu setzen. Es hat geklappt. Doch dann der Schock: Sechs Wochen später erfährt Brune, dass sie Krebs hat.
„Warum jetzt noch Krebs? Warum kann ich nicht wie andere Frauen einfach die Schwangerschaft genießen?“, sagt Brune. Wegen der Krebsdiagnose denkt sie an Abtreibung. Recherchiert im Internet Überlebenswahrscheinlichkeiten des Kindes. Sie kann sich nicht vorstellen, dass ihr Säugling die Chemotherapie übersteht. Doch die Ärzte machen ihr Mut. Sie sagen, sobald die Organentwicklung des Kindes abgeschlossen ist, kann die Chemo starten – ohne Risiken für das Kind.
16 Chemositzungen überstanden
Brune hat insgesamt 16 Chemositzungen. Sie beginnen kurz vor Weihnachten, in der 15. Schwangerschaftswoche. Die ersten vier im Zwei-Wochen-Abstand, dann jede Woche eine. Ihre Blutwerte bleiben stabil, ihr Baby entwickelt sich in der Zeit gut. Doch dann erfährt sie, dass sie eine Schwangerschaftsdiabetes bekommen hat – sie macht sich wieder große Sorgen um das Kind.
Ihre Familie und Freunde bieten ihr in der Zeit Hilfe an. Aber Brune möchte sich weiterhin um ihren zweijährigen Sohn Emil kümmern, einkaufen und kochen. Emil klammert in der Zeit mehr als sonst, er muss lernen, dass seine Mutter krank ist und nach der Chemo Ruhe braucht. Dadurch, dass sie viel selbst regelt, ist sie von der Krankheit und der Sorge um ihr Baby abgelenkt.
Der errechnete Geburtstermin ist der 21. Mai 2021. Doch weil die Chemo bereits sechs Wochen zuvor endet und erst eine Operation Sicherheit darüber gibt, dass alle Krebszellen abgetötet sind, leiten die Ärzte die Geburt ein – drei Wochen vor dem errechneten Geburtstermin. Für die Entbindung erhält Yvonne Brune ein Familienzimmer im Krankenhaus, so dass ihr Mann dabei sein kann.
Am 28. April nachts um 1.31 Uhr kommt ihr Kind Anton auf die Welt. Brune guckt, ob bei Anton alle Finger dran sind. Ob er richtig schreit. Ob er rosig im Gesicht ist. Die Ärzte haben ihr zwar zuvor gesagt, dass das Kind gesund sein wird, aber im Hinterkopf schwirrt immer die Frage, ob das auch wirklich stimmt. Als sie ihn dann schmust und sieht, dass der kleine Junge gesund ist, genießt sie es, wie kaum etwas zuvor. „Es war so überwältigend. Der intensivste Moment meines Lebens.“ Ihr Kind ist außer Gefahr, jetzt muss nur noch sie überleben.
Ärzte schneiden nach der Geburt die Reste des Tumors aus der Brust
Sie hat kaum Zeit zu verschnaufen. Bereits zwei Tage später, am Freitag, schneiden die Ärzte die Reste des Tumors aus der Brust. Wegen der Schwangerschaft ist das Gewebe allerdings so verändert, dass sie nach der OP nicht sicher sagen können, ob sie den Tumor ganz entfernen konnten. Sollte vom Krebs noch etwas übrig sein, müssten sie die ganze Brust entfernen.
Die Mediziner versprechen Brune, bis Ende der darauffolgenden Woche das Ergebnis mitzuteilen. Doch sie rufen schon Anfang der Woche an: Selbst an den Rändern des Tumors konnten sie keine bösartigen Zellen mehr finden. Die Operation ist geglückt. Anschließend bestrahlen die Ärzte noch die Stelle, wo der Tumor saß.
Am 12. Juli 2021 schreibt Brune auf ihre Facebook-Seite: „Letzte Bestrahlung auch erledigt. Jetzt trau ich mich es auszusprechen... endlich Krebsfrei..“. Nun beginnt so langsam wieder ihr normales Leben, zurzeit geht sie noch zur Reha. „Danach muss ich einfach nur noch den Alltag mit zwei kleinen Kindern auf die Reihe kriegen.“