Oberhausen. Rollende Autos haben den kulturellen Stillstand in Oberhausen beendet. Cassy Carrington belebt im „Drive-in“ der Niebuhrg vergessene Gefühle.

Die schlabbernde Trainingshose sitzt locker. Der Kapuzenpullover kommt vermutlich nicht frisch aus dem Wäschetrockner. „Optisch befinde ich mich noch im Lockdown“, sagt Dragqueen Cassy Carrington am Samstagabend. Es klingt nach einer Entschuldigung vom Sofa. Aber die Insassen von 18 parkenden Autos im „Drive-in“ am Theater der Niebuhrg jubilieren. Denn die Show der Kölner Dragqueen beendet eine lange Durststrecke.

„Wahrscheinlich treffen wir uns hier heute zur einzigen Live-Veranstaltung in ganz Deutschland“, mutmaßt Ralf Rotterdam. Als Dragqueen mit dem eleganten Namen hat der Kleinkünstler während der Pandemie eher über soziale Netzwerke wie Facebook und Instagram mit den Fans Kontakt gehalten. Nun ist Life auch endlich wieder live. „Wann hatten wir unseren letzten Auftritt vor Publikum? Im September? Aber welches Jahr?“ Die Musiknoten stammen daher aus der Mottenkiste. Bühnenpartner Herr Cosler bläst am Piano den imaginären Staub vom Heft.

Wiedergeburt im Auto: Lachen. Schmunzeln. Applaudieren

Möglich macht das Live-Comeback der frühe Forscherdrang des Theaters an der Niebuhrg. Während des ersten Lockdowns hat die unabhängige Kultureinrichtung an der Stadtgrenze von Oberhausen und Duisburg die Parkplatzbühne im Autokino-Stil quasi erfunden. „Die Pläne lagen in der Schublade. Wir haben vorausgeplant und alle erforderlichen Genehmigungen erhalten. Das hat uns jetzt neue Behördengänge erspart“, sagt Niebuhrg-Chef Holger Hagemeyer.

Die Kleinkunst-Etikette ist denkbar einfach: Die Autos parken auf dem ehemaligen Zechengelände versetzt vor der Bühne. Bis auf den Toilettengang, bei dem die FFP2-Maske im Gesicht sitzen muss, dürfen die Besucher ihre Fahrzeuge nicht verlassen. Dafür fliegen die Showdialoge per Radiowelle ins Fahrzeug. In ihren fahrbaren Kokons erleben die Besucher plötzlich wieder: Lachen. Schmunzeln. Applaudieren.

Obwohl die zustimmenden Reaktionen im Niebuhrg-Drive-in natürlich ihre Corona-Eigenarten entwickeln. Blinker, Warnblinkanlage und selbst der Scheibenwischer zeigen jetzt: Sieht gut aus! Hört sich klasse an! Das war witzig!

Lockdown-Aufgabe: Tinder-Flirt mit Internetmäusen

Cassy Carrington denkt sich das Lexikon der Corona-Kommunikation selbst aus. Seine Lieben zu finden, ist im Lockdown ja bekanntlich äußerst anspruchsvoll: „Liebesfinder“ heißt darum auch das frisch zusammengedichtete Programm.

Und die erste Neuigkeit für die in ihren Autos eingemümmelten Zuschauer lautet: „Ich bin jetzt Single!“ Willkommen in den tiefen Gräben des Miteinanders während der Pandemie. Cassy Carrington plaudert über klickende Liebeleien auf Internet-Partnerportalen wie Tinder. Und sie singt von der virtuellen Begegnung mit der Internetmaus. Was übrigens zeigt, dass Mäuse eben nicht automatisch dem Computer-Zubehör zugerechnet werden müssen.

Doch eine Dragqueen ohne Glamour? Gibt es nicht! Und dann legt die Kleinkunst-Königin doch noch den Schlabberlook ab und zeigt sich im weinroten Kleid, was im recht frischen Abendwind durchaus mutig ist. Aber wie heißt es so schön: „Ewiges Showgirl, ewiger Lockdown!“

Nachdem Cassy Carrington noch offenbart, dass sie auf dem Sofa so ziemlich alles auf Netflix weggeschaut hat. Und im stets jungen Zwiegespräch mit Pianist Cosler noch über Heimsport und dessen Verzicht frotzelt, wagt sie sich sogar kurz zwischen die parkenden Fahrzeuge. Tuchfühlung durch Chrom und Autofensterscheiben. Die Autokennzeichen der Zuschauer: Coesfeld, Wesel, sogar Berlin. Und auch Duisburg. „Duisburg ist wie Venedig. Ohne die schönen Gebäude, aber genauso morbide.“ Der war gut.

Fans reichen Dragqueen wärmende Stoffdecke

In den Fahrzeugen lachen sie. Mit Chips und Schokolade haben einige Zuschauer diese in kleine Schlemmerstationen umgewandelt. Und weil es auf der Bühne kalt wird, leiht ein Fan der frierenden Cassy Carrington sogar seine Wolldecke von der Rückbank.

Hach! Die Herzenswärme zwischen Künstler und Publikum ist auch nach langer Lockdown-Pause nicht verloren gegangen.

>>> Niebuhrg legt im „Drive-in“ nach

Trotz des Corona-Lockdowns kann das Theater an der Niebuhrg die Oberhausener weiter mit Kultur versorgen. Der „Drive-in“ an der Niebuhrgstraße 61 bietet Platz für 40 Fahrzeuge. Neben Theater, Kabarett und Musical ist vieles möglich. Die Zuschauer bleiben dabei in ihren Fahrzeugen.

Der Einzeiler-Komiker Johnny Armstrong spielt am Freitag, 9. April, ab 19 Uhr. Die Tickets kosten 40 Euro und gelten pro Pkw mit zwei Erwachsenen und bis zu drei Kindern, die aus einem Haushalt stammen müssen. Infos: www.niebuhrg.de