Oberhausen. Das Druckluft hat sich vor dem Lockdown in ein Wunderland verwandelt. Die Theaterfaktorei zeigte eine Stunde Zauber. Und raumweise Zauberhaftes.

Normal ist nichts. Der Alltag steht Kopf. Wegen der Corona-Pandemie wünschen sich wahrscheinlich nicht wenige auf der Suche nach Impfstoff und Rückkehr ins normale Leben ein Wunderland herbei. Doch wir bleiben stecken. Eher im Verwunderland. Bei der letzten Inszenierung vor dem Teil-Lockdown lieferte die Theaterfaktorei des Theaters Oberhausen am Samstag und Sonntag quasi als Gegenstück: eine Stunde Zauber. Und raumweise Zauberhaftes.

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Wunderland, so heißt die Inszenierung von Ronja Oppelt und Daniel Rothaug, die auf dem berühmten Roman „Alice im Wunderland“ des britischen Schriftstellers Lewis Carroll aus dem 19. Jahrhundert basiert. Und was die beiden Ensemblemitglieder mit jungem, ambitioniertem Nachwuchs zwischen 16 und 27 Jahren auf die Beine gestellt haben, sollte auf keinen Fall in der wundersamen Schublade ausprobierter und später wieder vergessener Ideen verschwinden. Die einstündige Reise lohnt – und wie.

Schauspiel im Raum – und über Kopfhörer

Hören. Sehen. Fühlen. Im Druckluft wurden die Besucher selbst zu einem Teil der Inszenierung „Wunderland“ – trotz der eingehaltenen Corona-Abstände.
Hören. Sehen. Fühlen. Im Druckluft wurden die Besucher selbst zu einem Teil der Inszenierung „Wunderland“ – trotz der eingehaltenen Corona-Abstände. © FFs | Michael Dahlke

Das liegt am Gesamtpaket. Schon die Kulisse ist ungewöhnlich: Keine starre Bühne, sondern das gesamte soziokulturelle Zentrum Druckluft wird zum Schauplatz. Und Hörplatz. Und Laufplatz. Durch die Corona-Pandemie haben sich die Macher eine neue Form der Darstellung ausgedacht.

Maximal vier Personen aus einem bis zwei Haushalten durchlaufen mit Kopfhörern auf den Ohren einzelne Räume. Die wegen Corona nötigen Abstände zwischen Besuchern definieren Kreuze auf dem Boden oder aufgestellte Stühle – sie reichen weit auseinander, doch die Atmosphäre ist dicht.

Fast greifbar ist es, wenn der Nonsens um Grinsekatze, das weiße Kaninchen und den verrückten Hutmacher von einzelnen Räumen zu einer Gesamtgeschichte wächst. Bei jeder Etappe wartet ein Schauspieler, der entweder live spricht oder über die Kopfhörer vermittelt, dass die Zeit stillsteht oder Unglück, Sehnsucht und Glück nur Nuancen auseinander liegen – dazu Musik, dazu Tanz, dazu Videoinstallation, dazu Klangcollagen, dazu ganz viel Seele.

Selbst der pfeifende Wind wirkt wie bestellt

Alice, die Hauptfigur, ist nicht irgendwo versteckt. Alice ist der Besucher selbst. Darum reden die Darsteller aus der Theaterfaktorei nicht miteinander, sondern eigentlich immer mit dem Publikum. Auf zwei Metern Abstand, versteht sich. Und so möchte man den Schnaps, der vom Schlappohr an der Druckluft-Theke zum Salut eingeschüttet wird, gerne annehmen. Doch eine rote Linie auf dem Boden verhindert den Kontakt. Keine Zeit, der Hase trinkt alle Drinks selbst. Die Pandemie spielt mit.

Audio-Walk aus der Theaterfaktorei

Bei Wunderland führen Ronja Oppelt und Daniel Rothaug die Regie. Am Wochenende starteten die Audio-Walks im Druckluft – also Inszenierungen, bei denen teilweise Kopfhörer getragen werden – mit Zeitversatz für jeweils bis zu vier Personen aus einem bis zwei Haushalten.

Als Schauspieler agierten Kester Crosberger, Merlin Dembowski, Janne Gerling, Lukas Giese, Adriana Grünewald, Kirill Neuberger, Stella Schaberg, Jacqueline Sluka und Elena Stuckmann aus der Theaterfaktorei. Die Produktion wurde ein Jahr vorbereitet.

Von Raum zu Raum schaut man auf mit wilden Graffiti besprühte Wände, läuft durch durchlebte Gänge, setzt sich in der Sporthalle mit Boxsack, Hantelbank und Antifa-Fahne an der Wand auf die ollen Holzbänke, die jeder aus seinem eigenen Sportunterricht kennt. Wenn es diese ganz normalen Druckluft-Räume nicht sowieso geben würde, man hätte sie fürs Wunderland nachbauen müssen.

Keine glattgebügelte Kindergeschichte, sondern mit Ecken und Kanten in Szene gesetzt: Der Hörspaziergang von „Wunderland“ spielte auch an der frischen Luft.
Keine glattgebügelte Kindergeschichte, sondern mit Ecken und Kanten in Szene gesetzt: Der Hörspaziergang von „Wunderland“ spielte auch an der frischen Luft. © FFs | Michael Dahlke

Am Ende steht der Besucher, also Alice, im Nieselregen vor der Freiluftbühne – und fragt sich, ob selbst der plötzlich stärker pfeifende Wind dazu gehört. Und ganz am Ende wird man sogar selbst Teil der Kulisse, steht in den beleuchteten Seitenfenstern und sieht hinter dicken Scheiben, wie die nächste Besuchergruppe loszieht, während Elena Stuckmann, stellvertretend erwähnt für das grandios gespielte Ganze, im weißen Hochzeitstutu Bierbänke auf den Boden tritt und an die Fensterscheiben klopft. Dazu atmosphärische Musik – Schlussakkord!

Einzig ein gutes Smartphone und pünktlich abspielende Klangdateien sind Voraussetzung und könnten eine Barriere sein. Wunderland ist eine sehr persönliche Reise, die mit der Magie des Theaters spielt – so dicht, dass man in der kleinsten Besuchergruppe kaum zu klatschen wagt.