Oberhausen. Die Erfahrung mit der ersten Online-Edition im 66. Jahr des Traditions-Festivals weist „weit hinaus in die Zukunft“, so Kurzfilmtage-Chef Gass.

„Unsere Erwartungen wurden mehr als übertroffen.“ Mit seinem Beitrag zum Ausklang der 66. Internationalen Kurzfilmtage machte Festivalleiter Lars Henrik Gass deutlich: Die in nur wenigen Wochen vor dem unverrückten Start-Termin 13. Mai gestemmte Online-Edition war keineswegs ein Notnagel – sondern vielmehr Inspiration für künftige Ausgaben des Traditionsfestivals: „Diese Möglichkeiten weisen weit hinaus in die Zukunft.“

Mit einem Programm aus rund 350 Kurzfilmen hatten die Kurzfilmtage auf gut 150 Werke verzichten müssen. Doch die Wettbewerbe liefen nahezu komplett – und auch die Preisgelder blieben dank treuer Sponsoren ungeschmälert bei einer Gesamtsumme von 42.000 Euro. Sie erreichten in einem breit gestreuten Auszeichnungsreigen sowohl Szene-bekannte Festivallieblinge als auch Neulinge aus aller Welt.

Unter Viehdieben: Von „rot gewandeten Sprechern der Menschheit“ in der Steppe Lesothos erzählt „Shepherds“, doppelt prämiert.
Unter Viehdieben: Von „rot gewandeten Sprechern der Menschheit“ in der Steppe Lesothos erzählt „Shepherds“, doppelt prämiert. © Internationale Kurzfilmtage

So ging die höchstdotierte Auszeichnung, die 8000 Euro des Großen Preises der Stadt Oberhausen, an die seit 35 Jahren als experimentelle Filmemacherin aktive Lynne Sachs aus Memphis, Tennessee: Ihr 14-minütiger „Month of Single Frames“ erfülle „die edelste Funktion der Kunst“, so die geradezu feierlich gestimmte Jury in ihrer Begründung, „nämlich zwischen Menschen aus verschiedenen Zeiten und Orten eine emotionale Verbindung herzustellen“.

„Komplexe Bilder von der heilenden Kraft der Liebe“

Darum geht es auch Sohrab Hura in seinem poetisch-dokumentarischen Fotofilm „Bittersweet“: Der 38-Jährige aus Neu-Delhi blättert in seinem 14-minütigen Werk zehn Jahre im Leben seiner Mutter auf, die an akuter Schizophrenie leidet. Die Jury würdigte „komplexe Bilder von der heilenden Kraft der Liebe“ – auch jener der Kranken zu ihrem Hund.

Stolze Bilanz: Die digitalen Kurzfilmtage in Zahlen

Die Online-Edition der 66. Internationalen Kurzfilmtage nennen die beglückten Veranstalter „weitaus erfolgreicher als erwartet“. Insgesamt sahen Internetnutzer in knapp 100 Ländern die Festivalfilme im Netz. Weit über 2500 Festivalpässe wurden in 60 Länder verkauft, über 1000 Fachbesucher aus fast 70 Ländern waren akkreditiert. 33 Schulklassen und damit rund 1000 Schüler sahen das Kinder- und Jugendprogramm im Homeschooling.

Gut besucht waren auch die Fachveranstaltungen: Rund 200 Studierende von 14 Hochschulen sowie über 50 Pädagogen diskutierten und informierten sich in Webinaren und Online-Tagungen. Selbst der traditionelle MuVi-Publikumspreis profitierte vom Online-Auftritt: Denn die über 2500 abgegebenen Stimmen bedeuten einen Teilnahmerekord.

Im Festival-Hub auf kurzfilmtage.de spielt das digital verjüngte Traditions-Festival übrigens bis Mittwoch morgen 9 Uhr nicht nur eine Auswahl der Preisträgerfilme, sondern auch das „Highlights“-Programm mit den Lieblingsfilmen des Kufita-Teams.

Auf ganz andere Weise erzählt „Shepherds“ von der gesellschaftlichen Bedeutung der Tiere – nämlich am Beispiel inhaftierter Viehdiebe. Entstanden ist diese fast halbstündige deutsch-südafrikanische Produktion von Teboho Edkins aus Kapstadt in der Steppe Lesothos, einem ganz vom Territorium Südafrikas umfassten Kleinstaat. In ihrer Sträflingskluft werden „die Hirten zu rot gewandeten Sprechern der Menschheit“, so die Jury. Teboho Edkins erhält sowohl den 1. Preis des NRW-Kulturministeriums, dotiert mit 5000 Euro, als auch den Preis der Ökumenischen Jury.

Mann gegen Schrank: Die Jury des NRW-Wettbewerbs bewunderte die „großartige Kameraarbeit“ von Deren Ercenk.
Mann gegen Schrank: Die Jury des NRW-Wettbewerbs bewunderte die „großartige Kameraarbeit“ von Deren Ercenk. © Internationale Kurzfilmtage

Die neue Facette im so reichhaltigen wie liebenswürdigen Wirken eines 54-jährigen Kurzfilmtage-Stammgastes prämieren 5000 Euro des Hauptpreises im Deutschen Wettbewerb: Bjørn Melhus, in tausendundeiner Kostümierung der Hauptdarsteller seines Oeuvres, das so charmant die Tonspuren alter Filmschätze nutzt, erzählt in den 20 Minuten von „Sugar“ aus einer postapokalyptischen Welt. „Der Film ist brillant produziert“, pries die Jury, „er positioniert sein Thema direkt, aber elegant, ist irgendwie neu und ungemein aktuell“.

Bilder des Dreikampfes klingen lange nach

Die erzählerischen Qualitäten der Stummfilm-Ära mag man in den drei Episoden von Deren Ercenks fast wortlosem 25-Minüter erkennen. Die Jury erkannte in „Berzah“ den besten Beitrag des NRW-Wettbewerbs, denn die Kölnerin leiste eine „großartige Kameraarbeit“ in den drei Kampfszenen: „brutzelnde Sonne gegen brennende Haut, Vater-Tochter-Gespann gegen übergriffige Zufallsbegegnung, Mann gegen Schrank“. Ausdrücklich zeigte sich die Jury gespannt auf Deren Ercenks nächstes Werk, denn die Bilder ihres Dreikampfes klingen lange nach.

Darf ein Film das? Als Online-Tutorial für Magersüchtige kostümierte Bela Brillowska den preisgekrönten Jugendfilm „Becky’s Weightloss Palace“.
Darf ein Film das? Als Online-Tutorial für Magersüchtige kostümierte Bela Brillowska den preisgekrönten Jugendfilm „Becky’s Weightloss Palace“. © Internationale Kurzfilmtage

Ob das auch für den MuVi-Gewinner gilt? Hübsche Bilder im chilligen Rhythmus von Kreidlers elegischer „Eurydike“ lieferten Andreas Reihse und Zaza Rusadze. Für die drei Juroren war wohl schlicht lobenswert, dass sich Elektropopper mal mit einem Motiv der griechischen Klassik befassten.

Alles, was die Augen öffnet

In das nicht minder schicke Medium eines Online-Tutorials packt „Becky’s Weightloss Palace“ einen sarkastisch-harten Kommentar. Angesichts der nur acht Minuten von Bela Brillowskas bitterböser Anleitung zum Verhungern fragte sich die Jugendjury zunächst: „Darf man so einen Film überhaupt machen?“ Doch die drei Jugendlichen waren überzeugt: Genau so sollte man das Tabu-Thema Magersucht ins Gespräch bringen. Außerdem haben die Drei eine dauergültige Erfahrung mitgenommen: Ja, die Kurzfilmtage dürfen alles zeigen – alles, was die Augen öffnet.