Oberhausen. Regisseur Martin G. Berger gelingen grellbunte Tableaus ebenso stimmig wie innige Szenen. Als Peer gibt André Benndorff einen großen Einstand.

Fast war’s wie eine Demonstration für das gute, alte Musiktheater, von dem sich die Oberhausener schon vor mehr als drei Jahrzehnten verabschieden mussten: So ausgiebig feierte das Publikum im Großen Haus die Premiere von „Peer Gynt“ als Musical. Regisseur Martin G. Berger nennt seine Kreation „eine Revue nach Henrik Ibsen“. Sie vereinte überraschend stimmig den nostalgischen Schmiss und Schmelz vergessener Lieder aus alten Broadway- und Hollywood-Musicals mit schrillen Tableaus, die wie selbstverständlich das dunkle Mythen-Geraune des Norwegers gen Gegenwart schnellen lassen.

Die Bürger des Städtchens umringen als bleich geschminkte Zombies den struppig aufbehrenden Peer Gynt (André Benndorff).
Die Bürger des Städtchens umringen als bleich geschminkte Zombies den struppig aufbehrenden Peer Gynt (André Benndorff). © Theater Oberhausen | Isabel Machado Rios

Mit diesem Taugenichts, Tagedieb und Trunkenbold gibt André Benndorff einen großen Einstand im Ensemble – als „Rampensau“ im besten Sinne: Es drängt ihn nach vorne, seine Präsenz ist in stillen Momenten ebenso lebenssatt wie in derben Szenen. Und der Gesang? Da gelingt allen sieben Schauspielern der Coup – auch dank Regie und Theatermusiker Martin Engelbach mit seinem Oktett – stimmlich einen blendenden Eindruck zu hinterlassen. Fast wirken die fünf Gäste, die als Musical-Profis der Choreografie von Matthias Brühlmann Schwung geben, dagegen zunächst etwas matt.

Mit geilen Trollen zur „babylonischen“ Revue

Die Eröffnungsszene mit Peer als Kind (im Wechsel der Vorstellungen gespielt von Bella Cholevas, Leonard Lampkin und Melek Kahraman) gibt dem Gyntschen Ich, jenem „Heer von Wünschen, Lügen und Begehr“, eine Grundierung durch Armut und eine abweisende Mutter (Emilia Reichenbach hat hier viel zu rauchen). Kleiner und großer Peer klatschen sich ab im grellbunten Trubel einer Zirkusparade – deren morbide Ausstattung inspiriert scheint von Tod Brownings 88 Jahre altem B-Movie „Freaks“. Im zweiten Akt muss sich hier sogar der alt gewordene Troll-König (hinreißend gestaltet von Torsten Bauer) ein Auskommen suchen.

Die verständnisvolle Seelenschmelzerin: Ronja Oppelt cool als „Knopfgießer“.
Die verständnisvolle Seelenschmelzerin: Ronja Oppelt cool als „Knopfgießer“. © Theater Oberhausen | Isabel Machado Rios

Das Treiben der Trolle als sexprotzige Hermaphroditen mag als verwegenste Shownummer dieser für etliche starke Momente „babylonischen“ Revue herausragen: Darin steckt durchaus Hintersinn – zeigt die grelle Kostümierung doch, welche Ängste vor Tabubruch und Grenzüberschreitungen in den Märchenfiguren gebannt waren. Zudem geben die geilen Trolle Peer, dem Egoisten ohne Ego, ein Motto als Lebensaufgabe mit: „Sei dir selbst genug“.

Kabarettistisch geschliffene Verse von Morgenstern

Peers Weg aus dem Wald in die Welt führt in eine grandiose Casino-Nummer der beflissenen Kellner und des in „Fat Suits“ gepressten Ensembles. Dank der dicken Kapitalisten dürfen erstmals auch die kabarettistisch geschliffenen Verse der Nachdichtung von Christian Morgenstern glänzen. Zuvor waren sie oft allzu rabiat „modernisiert“ worden. „Heute fühlt sich der erhaben / der glaubt, die freie Wahl zu haben.“

Peer Gynt geriert sich als König der Steuerbetrüger und – damit nicht genug – erträumt sich in maßloser Hybris ein „Peeropolis in Gyntiana“. Selbst die mit esoterischen Verweisen gespickte Prophetenszene holt diese Inszenierung bildmächtig von den 1870ern ins Heute: Die Peer umtanzenden „Huri aus dem Paradies“ sind hier handgestrickt maskiert wie einst „Pussy Riot“, jene Punk-Aktivistinnen, die es gewagt hatten, die unheilige Allianz von Kirche und neuem Zar aufzuspießen.

Assistiert vom vielfältig eingesetzten Musical-Ensemble wird Clemens Dönicke zum sechsarmigen Filmemacher.
Assistiert vom vielfältig eingesetzten Musical-Ensemble wird Clemens Dönicke zum sechsarmigen Filmemacher. © Theater Oberhausen | Isabel Machado Rios

Nach der Pause in diesen davonfliegenden zweieinhalb Stunden wechseln Musik und Tableaus zu Moll: Während jener Sturmszene, in der Peer seinen Kontrahenten ins Meer stößt, ist sogar Griegs tosende Suite zu hören. „Ich habe Takt / man stirbt nicht am Anfang vom zweiten Akt.“ Cool in Fransenlederjacke fordert Ronja Oppelt als Knopfgießer die Seele von Peer: Für die Hölle sei er nicht sündig genug – „nur wischiwaschi“.

Flirt mit der verständnisvollen Seelenschmelzerin

Das Flehen um Aufschub ist hier fast ein Flirt mit der verständnisvollen Seelenschmelzerin. Ungleich bedrohlicher die mephistophelische Gestalt des „Mageren“: Sechsarmig hantiert Clemens Dönicke mit Negativstreifen, Fixierbad und Fotopapier. Doch Peer kann er nicht fixieren und gen Hölle schleudern.

In großer Besetzung

Insgesamt elf Aufführungen in großer Besetzung – von Band wie Darsteller-Riege – sind bis zum Sommer von „Peer Gynt“ vorgesehen. Im Januar gibt’s noch zwei Termine: am Donnerstag, 30., mittags um 12 Uhr und am Freitag, 31., um 19.30 Uhr mit einem Nachgespräch.

Karten kosten jeweils von 11 bis 23 Euro, 0208 - 8578 184, theater-oberhausen.de

Zum Schluss kehrt die circensische Freakshow zurück, und Daniel Rothaug fordert als charismatischer Affe: „Come join the Circus!“ Im knalligen, aber halbdüsteren Getümmel hat Peer seine Welt gefunden.