Oberhausen. . Allein in diesem Jahr leitete der Regierungsbezirk Düsseldorf bereits 1330 Bußgeldverfahren gegen „schulmüde“ Jugendliche ein. Die Tendenz: steigend.
Felix* will nach Hause. „Dann verpasst du das Mittagessen“, warnt ihn Sandra Göddertz. Felix erwidert nichts, seine Deutschlehrerin lässt ihn gehen. Über seinem verwaisten Platz bleibt eine Tafel zurück, auf der er seine Ziele benannt hat. Dort stand einmal „einen ganzen Tag in der Schule bleiben“. Das erste Wort hat er inzwischen gestrichen und ersetzt durch: „Immer den“. Immer den ganzen Tag in der Schule bleiben und später gute Noten kriegen und noch später? „Vielleicht ein Praktikum machen.“
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Felix ist einer von sechs Schülern, die derzeit die Projektklasse der Gemeinnützigen Gesellschaft für soziale Arbeit (GSA) in Oberhausen besuchen. Seit 2006 werden hier schulmüde Jugendliche zwischen zwölf und 16 in Kooperation mit der Jugendhilfe betreut, um sie wieder in den Regelunterricht einzugliedern. In diesem Jahr stieg die Zahl der Anzeigen gegen Langzeit-Schulverweigerer wie Felix allein an den Oberhausener Grund-, Haupt- und Förderschulen von 124 (2010/2011) auf 161.
Jeder Schüler wird individuell gefördert
In der Psychiatrie diagnostizierten Ärzte bei Felix eine Agora-Phobie.Da war er zwölf. Therapien gegen seine Angst vor großen Räumen und viele Menschen brachten nur kurz Besserung. Felix sagt, er sei ein „ziemlich guter Schüler gewesen“. In der Projektklasse kann er nun wieder Englisch, Deutsch und Ethik lernen, von montags ab neun Uhr bis freitags. Er kann. Er kann aber auch gehen, wann er will. Ohne Druck, ohne Ärger. Jeder Schüler wird individuell gefördert. „Selten sitzen hier Jugendliche, die keine Lust auf Schule haben“, sagt Regine Brien von der kooperierenden Fachstelle „Empower“. Manche wurden gemobbt, andere hatten ein schlechtes Verhältnis zum Lehrer, manchmal gab es familiäre Konflikte . Die Ursachen sind so vielfältig wie die Herkunft der Jugendlichen. „Schulverweigerung ist kein Problem der Armut“, stellt Brien fest.
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Oft fängt es an mit dem klassischen „Schwänzen“ von Randstunden, dann ganzer Tage, schließlich Wochen und Monaten. Wie bei Sabrina. Anfangs ließ sie mit ihren Freundinnen nur die letzten Stunden ausfallen: „Irgendwann haben wir uns gedacht: Lass mal nicht in die Schule gehen.“ Daraus wurde fast ein halbes Jahr. „Ich komme morgens schlecht aus dem Bett.“ Wenn die Mutter zur Frühschicht ging, blieb Sabrina liegen, erzählte später, sie sei zur Schule gegangen. Mit ihren Freundinnen vertrieb sie sich die Zeit.
Ein „Knäuel von Problemen“
Lisa ist ein anderer Typ. Statt zur Schule zu gehen, hat auch sie mit ihren Freundinnen „gechillt“, aber bei ihr klingt das nicht so leicht wie bei Sabrina. Mehr sagt sie nicht. An den Wochenenden arbeitet die 16-Jährige als Zeitungszustellerin. Lisa würde gerne einen Abschluss machen. „Ich will Verkäuferin in einem Lebensmittelladen werden, seitdem ich ein Kind bin.“
Das „Knäuel von Problemen zu entwirren“, darum kümmern sich bei er GSA Sozialarbeiter. Manchmal klappt das, wie bei der 15-jährigen Sophie, die nach ihrer Schwangerschaft wieder zur Schule geht. Sie versuchen herauszufinden, was die Jugendlichen wirklich wollen, und ihnen dazu die Zeit zu geben. „Es gibt Wochen, wo es wunderbar läuft“, sagt Klara Cremers.
Bildungskluft zwischen Lehrern und Eltern macht es schwerer
Das Wort „Schulverweigerung“ benutzt Anne Smidt ungern. „Darin steckt eine oppositionelle Haltung“, erklärt die sozialpädagogische Schulintegrationshilfe. Seit 2009 versucht sie, in den Schulen mit ambulanten Angeboten präventiv zu wirken. „Nachhaltige Besserung erreicht man nur durch Erziehungspartnerschaften zwischen Eltern, Schulen und Kindern. Sanktionen führen in der Regel zur Verschlechterung.“ Das verhängte Ordnungsgeld zahlten Eltern lieber, als die Probleme anzusprechen.
Aus Erfahrung weiß Anne Smidt, dass häufig eine Bildungskluft zwischen Lehrern und Eltern Gespräche verhindere. Zugleich glaubten Eltern, angeprangert zu werden: Ich habe versagt. Empower-Chefin Brien erlebt in den Beratungsgesprächen regelmäßig Eltern, die „hilflos und absolut verzweifelt“ sind.
Einen Abschluss können Schüler in der Projektklasse nicht erwerben. Aber sie können sich im Unterricht ans Klima gewöhnen, um zurückzukehren. Und über ihre Ziele nachdenken. Felix ist ein Auto-Fan: „Ich möchte einen Dodge Charger mit 580 PS haben und den tunen.“ 200.000 Euro soll das kosten, hat er ausgerechnet. Wie er das Geld zusammenkriegt, weiß er noch nicht. Naturwissenschaften interessieren ihn, aber ohne Abi? Er könnte sich vorstellen, als Kfz-Mechatroniker zu arbeiten. In der Projektklasse macht er dafür die ersten Schritte.
* Namen geändert