Essen. Ängste, Zwänge, Panikattacken: Wenn Jugendliche nicht mehr zur Schule gehen, kann eine psychische Erkrankung dahinter stecken. Wie geht es weiter, wenn eigentlich nichts mehr geht? Ein Besuch in einer Art Paralleluniversum
Annika stützt ihre Hände auf dem Rücken des Holzpferdes ab, ihre Beine bringt sie mit Schwung nach hinten, klatscht die Füße in der Luft zusammen. Sand fällt von ihren Sohlen zu Boden. Wenn das mit ihren Zwängen, ihren Ängsten doch auch so einfach ginge. Einfach abwerfen, einfach abschütteln.
„Hey, das machst du super. Klappt doch“, ruft ihr die Lehrerin zu. Annika, die in Wirklichkeit anders heißt, versucht zu lächeln, dabei ist ihr die Anspannung an ihren Gesichtsmuskeln deutlich abzulesen.
Voltigierstunde in einer Reithalle in Essen. Es ist eine Art Sportunterricht für Jungen und Mädchen der Ruhrlandschule. Eine Einrichtung, die sich Schulverweigerern wie der 14-jährigen Annika annimmt. Auf dem Holzpferd wärmt sich das Mädchen auf, macht Trockenübungen. Das unbewegliche Ding wird sie nicht zu Boden schmeißen können. Hier wird sie nicht scheitern. Hier ist Annika stark. Stark und erfolgreich.
Die Ruhrlandschule ist ein bisschen wie das Holzpferd: Eine Vorbereitung auf das „echte“ Leben. Eine Vorbereitung auf ihre Heimatschule. Die wiederum ist ein bisschen wie das große braune Pferd in der Halle. Wenn sie nicht aufpasst, kann es sie umrennen und in die Knie zwingen.
Sie will, aber kann nicht zur Schule
Wenn man an einen Schulverweigerer denkt, dann bestimmt nicht an Annika. Sie entspricht nicht dem Klischee vom „Null-Bock-Schüler“, der statt in die Schule zu gehen, lieber mit seiner Clique abhängt. Die große, schlanke junge Frau mit dem aschblonden Haar ist ein bisschen schüchtern, aber ehrgeizig. „Sie ist ein richtiger Naturwissenschafts-Freak“, sagt eine ihrer Freundinnen. Ärztin möchte Annika mal werden. Doch bis dahin muss sie selbst erst einmal gesunden.
Vor vier Jahren – da fing alles an. Annika war gerade von der Grundschule aufs Gymnasium gewechselt. Sie sitzt vor der ersten Deutscharbeit und bricht in Tränen aus. „Ich wollte besonders gut sein. Hab mir Druck gemacht und hab dann eine Panikattacke bekommen.“ Annika schafft es einfach nicht mitzuschreiben. Zu groß ist die Versagensangst. Doch sie gibt nicht auf, versucht es wieder und wieder. Und scheitert. „Es wurde einfach immer schlimmer.“
Sie entwickelt einen Lernzwang, macht überdurchschnittlich viel, kontrolliert ihre Hausaufgaben teilweise zehn Mal am Tag. Ihre Lehrer bieten ihr schließlich an, Klausuren nur noch mündlich machen zu müssen und keine Bewertungen mehr zu bekommen. Ihre Mitschüler werden neidisch auf diese Sonderbehandlung, können ihre Situation nicht nachvollziehen. „Ich wurde geärgert, habe sehr viel geweint“, sagt sie und schaut dabei zu Boden.
Annika wechselt die Schule, wird eine Klasse zurückgestuft. Sie bekommt Medikamente, doch die verträgt sie nicht. Fällt es ihr schwer, über das Erlebte zu sprechen? „Nein, meine Lebensgeschichte habe ich schon so häufig erzählt. Bei jedem Arzt, jedem Lehrer...“, sagt die 14-Jährige und wirkt dabei für ihr Alter sehr erwachsen.
Vielen fehlt der Mut
Es ist Anfang Januar, noch kalt und ungemütlich draußen, als Annika zum ersten Mal die Kinder-und Jugendpsychiatrie betritt. Auf der KJP4, wie die Station heißt, werden Jugendliche mit schulvermeidendem Verhalten im Alter von zwölf bis 18 Jahren behandelt. Hier, 60 Kilometer von Zuhause entfernt, soll sie wieder gesund werden. „Dass ich jetzt in einer Klinik bin, damit musste ich lernen umzugehen. Besonders in der ersten Woche war ich traurig und habe meine Familie vermisst.“
Diesen Schritt überhaupt zu machen, für den fehlt vielen anderen in Annikas Alter der Mut. „Die Krankheit einzugestehen und dann Hilfe aufzusuchen - das erfordert Stärke. Dabei ist eine psychische Erkrankung nicht anders zu betrachten als ein Beinbruch. Man muss sich dafür nicht schämen“, sagt Dr. Volker Reissner. Er ist Arzt in der Kinder-und Jugendpsychiatrie des LVR-Klinikums. „Schulvermeidung ist ein ernst zu nehmendes Thema. Wenn jemand mal blau macht, sollte man darauf ein waches Auge haben.“
Wer etwas im Leben erreichen möchte, der darf nicht einfach nur „gut“ sein. Er muss „sehr gut“ sein. So wird es Annika schon in der Grundschule eingetrichtert. „Meine Lehrerin sagte uns, dass eine Zwei zu schlecht ist. Wer keine Eins schafft, ist dumm“, erzählt das Mädchen.
Überforderung in der Schule – Hermann Frey kennt dieses Problem. Der Schulleiter der Ruhrlandschule hat an seinem Schreibtisch Platz genommen. Er ist ein Mann mit freundlichen, warmen Augen in einem schmalen Gesicht. „Ich habe beobachtet, dass immer mehr Schüler mit Überforderung hierher kommen. Dem gesteigerten Leistungsdenken sind viele eben nicht gewachsen. Da ist auch die Schulpolitik dran schuld“, sagt Frey. Damit meine er zum Beispiel das Abitur in acht Jahren und einen prall gefüllten Stundenplan.
Zurück in den Alltag - mit ein bis zwei Stunden am Tag
Hier in der Ruhrlandschule versucht man, den Jugendlichen die Rückkehr zur Heimatschule zu erleichtern. Sie spielt eine zentrale Rolle in dem Netzwerk aus Tagesklinik, Schulverweigerungsambulanz, Kinder- und Jugendpsychiatrie. Die Schüler dürfen den Anschluss nicht verlieren, müssen Unterrichtsstoff aufarbeiten und sich an das System Schule wieder gewöhnen. Und ganz wichtig: Die Angst besiegen. „Bei vielen muss man mit ein oder zwei Stunden Unterricht am Tag anfangen. Die waren ja häufig wochenlang nicht mehr in der Schule“, sagt Hermann Frey.
30 Lehrer unterrichten hier Fächer von Deutsch bis Biologie und eben ab und zu auch das Voltigieren. Eine richtige Sporthalle hat die Ruhrlandschule nicht, Bewegung sollen die Jugendlichen trotzdem bekommen. Und das Voltigieren schaffe eben auch kleine Erfolge.
Mit dem Erfolg ist das aber so eine Sache. Wenn Hermann Frey könnte, würde er gern mehr tun für seine Schüler. Das Problem: Wer auf einen stationären Platz wartet, tut das im Extremfall zwischen vier und sechs Monate. Seine Heimatschule zu besuchen, das schafft er in dieser Zeit in der Regel nicht. „Zu uns darf der Schüler dann aber auch nicht kommen“, sagt Frey.
Es gehe Zeit verloren. Das Krankheitsbild festige sich, der Schüler hänge mit dem Lernstoff weiter hinterher. „Was wir für sinnvoll halten, können wir einfach nicht tun“, bedauert Frey, hat dabei seine Hand ans Kinn gelegt und wendet den Blick nachdenklich nach draußen. Es ist nicht das Einzige, was den Mann beschäftigt. Sind die Jugendlichen nämlich einmal da, müssen sie allzu schnell wieder weg. Früher dauerte der Aufenthalt zwischen drei und sechs Monaten, heute seien es häufig nur noch zwei Monate. „Die Gesundheitspolitik hat hier massiv gekürzt“, kritisiert er. „Und das ist einfach eine verdammt knappe Zeit, um gesund zu werden.“
Annika hat Glück
Annika hat Glück: Sie darf drei Monate bleiben. Drei Monate, in denen sie mit ihrer Versagensangst immer wieder konfrontiert wird. Sie wird in Prüfungssituationen gebracht. „Du schaffst das!“ – diese Worte hört das Mädchen immer wieder. Und sie motivieren. „Auch wenn es schwer ist, ich muss das machen, sonst weine ich ja nur wieder.“ Sie bekommt Ratschläge, wie sie mit ihrer Angst umgehen kann. Zum Beispiel sich kurz vor der Prüfung ablenken, an etwas anderes im Raum denken. Und sie lernt Menschen kennen, denen es ähnlich geht wie ihr. Da sind zum Beispiel Mia und Charlotte, die für das Mädchen da sind. „Manchmal trösten wir uns gegenseitig.“
Zwei Tage bleiben ihnen noch. Dann wird Annika entlassen. „Wir werden uns wieder sehen. Ganz sicher“, sagt Annika, schaut zu den beiden Freundinnen herüber, die mit ihr auf einer Bank in der Reithalle Platz genommen haben. Mia nickt zustimmend. Charlotte nimmt ihren Arm, legt ihn beschützend um Annika. „Ich habe Angst, dass alles wieder von vorne losgeht“, sagt Annika.
Gesund ist sie noch lange nicht. „Meine Zwänge sind noch da. Ich kann diesen Kontrollzwang nicht abstellen. Es könnte ja was Schlimmes passieren, wenn ich es nicht tue“, sagt sie, um dann direkt wie zur Entschuldigung hinterherzuschieben: „Mein gesunder Menschenverstand weiß ja eigentlich, dass das dumm ist. Unnötig.“
Annika will versuchen, wieder ein normales Leben zu führen. Vielleicht wird sie zunächst für ein paar Stunden wieder zur Schule gehen. Wenn alles gut läuft, wird sie Klausuren mitschreiben. „Jetzt freue ich mich erst mal auf meine Familie. Die habe ich schon vermisst“, sagt sie, befreit sich dabei aus den Armen ihrer Freundin, setzt den Reithelm auf und steigt entschlossen auf das wiehernde Pferd.
Zahlen und Fakten: Schulverweiger und Schulschwänzer in Deutschland
Ärzte des Essener LVR-Klinikums haben herausgefunden: Fünf bis zehn Prozent der Schüler in Deutschland nehmen „regelmäßig und in einem erheblichem Ausmaß“ nicht am Unterricht teil. Die Deutsche Gesellschaft für Kinder-und Jugendforschung gab jüngst erschreckende Zahlen bekannt. 14 Prozent der Jugendlichen in Deutschland sollen in einer depressiven Phase stecken, die mehrere Wochen oder sogar Monate dauert. Die Zahl stationärer und ambulanter Behandlungen habe zugenommen. Eine Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen (KIGGS) aus dem Jahr 2012 geht sogar noch weiter: 20,2 Prozent der drei bis 17-Jährigen gehören zur Risikogruppe für psychische Auffälligkeiten.
Die Schulvermeidung ist ein weites Feld. Sie unterteilt sich in die Schulverweigerer und die Schulschwänzer.
Laut Zahlen des Klinikums machen die Schulverweigerer den Großteil aus. In der Spezialambulanz für Schulvermeider, der ersten Anlaufstelle für erkrankte Schüler, zählt man 50 Prozent zu den Schulverweigerern. 29 Prozent sind Schulschwänzer und die verbleibenden 21 Prozent gehören beiden Gruppen an. Jährlich sind es etwa 150 Kinder und Jugendliche, die die Ambulanz betreut. „Mich Sicherheit gibt es noch mehr Schulschwänzer. Sie sind uns häufig aber gar nicht bekannt, weil sie bei uns keine Hilfe suchen“, sagt Dr. Volker Reissner, Arzt in der Kinder-und Jugendpsychiatrie des LVR-Klinikums.
Schulschwänzer bleiben ohne das Wissen der Eltern von der Schule fern. Sie leiden oft an Konzentrationsproblemen, können sehr impulsiv reagieren oder haben ein gestörtes Sozialverhalten. Sie finden sich zum Teil unter denjenigen, die man umgangssprachlich auch als „Null Bock“-Schüler bezeichnet.
Die Schulverweigerer seien meist sehr still, lebten in sich gekehrt und hätten wenig soziale Kontakte. Die Ursachen sind vielfältig: Sie reichen von Mobbing in der Schule, Aufmerksamkeitsstörungen bis hin zu ganz persönlichen Problemen in der Familie wie etwa die Trennung der Eltern.