Oberhausen. Seit dem Ende des Ersten Weltkriegs war Oberhausen nicht mehr zur Ruhe gekommen. Erst im Spätsommer 1920 normalisierten sich die Verhältnisse wieder.
Oberhausen, Sterkrade und Osterfeld im Spätsommer 1920, vor 95 Jahren also, das waren drei Industriestädte, die nach anderthalb Jahren mit teils bürgerkriegsähnlichen Zuständen wieder Kurs in Richtung Normalität zu nehmen schienen. Nur an den bescheidenen Wohlstand der Vorkriegszeit war nicht mehr zu denken. Das Geld und damit die Ersparnisse waren abgewertet. Für die Kriegsheimkehrer gab es kaum noch Arbeit. Und politisch radikalisierte Gruppen rangen teils mit rücksichtsloser Gewalt um die Vorherrschaft.
Da mochte es die Leser des bürgerlichen General-Anzeigers für Oberhausen und Umgebung nicht mehr beunruhigen, wenn sie Ende August 1920 lasen: Mehrere tausend Demonstranten seien mit roten Fahnen zum Industrieplatz, dem heutigen Friedensplatz, gezogen. Redner linksradikaler Parteien, gemeint waren Unabhängige Sozialdemokraten (USPD) und Kommunisten (KPD), hätten dort eine Bewaffnung des Proletariats, der Arbeiterschaft also, gefordert, ferner die Entwaffnung der Bourgeoisie, des Bürgertums. Die Redner hätten ihre Sympathie mit dem neuen Mutterland des Sozialismus, der Sowjetunion, bekundet.
Allerdings lasen sie auch, dass die auf Reichsebene bedeutsame USPD vor der Spaltung stand. Sie war 1917 aus Protest dagegen entstanden, dass die Mehrheit in der SPD bereit war, die Fortsetzung der Kriegführung des autoritären Kaiserreichs zu unterstützen, statt auf ein sofortiges Ende der Kampfhandlungen zu drängen. Jetzt zerfiel sie selbst an der Frage, wie man zur blutigen Gewalt der russischen Revolution stand.
Arbeiter- und Soldatenräte
Die Alltagssorgen der Menschen waren aber ganz andere. So weigerten sich Oberhausener Bergleute dem Blatt zufolge, weiterhin mit Ersatzstoffen gebackenes Brot zu verzehren und forderten eine bessere Brotversorgung.
Von einer Kundgebung der Milchhändler in Essen wurde berichtet. Nach dem bevorstehenden Ende der Lebensmittel-Zwangsbewirtschaftung forderten die Händler den vollständigen Rückzug der Stadtverwaltungen aus der Milchversorgung.
Und in London verhandelte Ernährungsminister Andreas Hermes (Zentrumspartei) über eine höhere Lebensmitteleinfuhr nach Deutschland. Noch würden die Kohlelieferungen Deutschlands an die Siegermächte des Ersten Weltkriegs den Vereinbarungen entsprechen. Aber die Bergleute seien am Ende ihrer Kräfte. Es drohe ein Zustand der Unterernährung. Überhaupt zeige sich das deutsche Volk angesichts der schlechten Ernährung in einem nervösen, für Krankheiten anfälligen Zustand, warnte der Minister in London.
Seit der Reichstagswahl vom 6. Juni 1920 hatten die Parteien, die die junge Weimarer Republik stützten, keine Mehrheit im Parlament mehr. Nach der Wahl wurde eine gemäßigte bürgerliche Minderheitsregierung unter Führung des Zentrumspolitikers Constantin Fehrenbach gebildet.
Auch in Oberhausen, Sterkrade und Osterfeld hatten sich bei Kriegsende 1918 Arbeiter- und Soldatenräte gebildet, die die Macht für sich beanspruchten. Ihnen gegenüber stand die etablierte, bis dahin auf die Monarchie eingeschworene Beamtenschaft, auch in den Rathäusern.
Streikende Bergarbeiter erschossen
Die gemäßigten Vertreter der Arbeiterschaft arrangierten sich mit ihnen und den bürgerlichen Parteien, um die große Not der Nachkriegszeit gemeinsam anzugehen. Aber vor allem die Bergarbeiter zeigten sich für linksradikale Propaganda anfällig. Ihre Hauptforderungen waren höhere Löhne und die Einführung der Acht-Stunden-Schicht.
Hamborn, die Nachbarstadt, war eine Hochburg der Linksradikalen. Dort geriet die Lage außer Kontrolle, wurden das Rathaus geplündert, der Polizeichef misshandelt und Bergwerksdirektoren verschleppt. Diese Zustände drohten auf Oberhausen überzugreifen. Nur durch ein Entgegenkommen konnten die Bergleute beruhigt werden.
Trotzdem kam es zu mehreren blutigen Zusammenstößen. So am 27. Dezember 1918, als eine vom gemäßigten Arbeiter- und Soldatenrat in Sterkrade zu Hilfe gerufene Söldnertruppe das Feuer auf einen Zug streikender Bergarbeiter eröffnete. Es gab die ersten drei Toten.
Anfang 1919 hatten die Linksradikalen sich der Arbeiter- und Soldatenräte von Oberhausen und Sterkrade bemächtigt. Eine Demonstration der bürgerlichen Parteien dagegen auf dem Neumarkt endete am 12. Januar mit einer weiteren Schießerei mit vier Toten.
Eine Streikwelle überzog das Ruhrgebiet. Die Ernährungslage war katastrophal. Als Truppen im Auftrag der SPD-geführten Reichsregierung am 24. Februar 1919 einem linksradikalen Aufstand in Sterkrade ein Ende machten, gab es einen weiteren Toten.
Oberhausen zum Generalstreik aufgerufen
Da waren die ersten demokratischen Kommunalwahlen Anfang März 1919 fast Nebensache. Sie beendeten nach der Abschaffung des Dreiklassen-Wahlrechts die jahrzehntelange Vorherrschaft der bürgerlichen „GHH-Fraktion“ in Oberhausen. Die Wähler beauftragten die katholische Zentrumspartei mit der Führung aller drei Städte.
Aber auf dem Altmarkt gab es Ende Juni bei Schießereien zwischen Regierungstruppen und Zivilisten Ende Juni über 30 Verletzte. Anlass waren Proteste gegen die hohen Lebensmittelpreise. Am 6. Juli gab es einen weiteren Schusswechsel in der Innenstadt. Sechs Menschen starben.
Anfang Januar 1920 griffen wieder Unruhen von Hamborn aus über. Es gab wieder einen Toten. Die Verhältnisse drohten vollends aus dem Ruder zu laufen, als es am 13. März in Berlin zu einem Militärputsch kam. Ein Generalstreik ließ den Putsch drei Tage später zwar scheitern. Trotzdem gerieten aufgebrachte Bürger und die Polizei am 16. März auf dem Neumarkt aneinander. Als aus dem Hinterhalt Schüsse auf die Polizei abgegeben wurden, erwiderte diese das Feuer. Es gab sechs Tote und zwölf Schwerverletzte.
Gegen den Militärputsch hatte sich im Ruhrgebiet eine „Rote Armee“ gebildet. Sie besetzte Oberhausen am 19. März und rief Ende des Monats zum Generalstreik auf.
Gegen die „Rote Armee“ rückten Anfang April Truppen der Reichswehr an. Die Kämpfe zwischen ihnen und den Aufständischen zogen sich bis zum 5. April hin. Fünf Rotarmisten wurden danach auf dem Altmarkt hingerichtet. Insgesamt starben 22 Menschen. Erst danach beruhigten sich die Verhältnisse wieder.