Mülheim. DerWesten sprach mit Dr. Rudolf Groß, Chefarzt der Psychiatrie und Psychotherapie am Marienhospital Mülheim, über das Thema Depressionen, deren Ursachen und Behandlungsmöglichkeiten.

Gibt es heute mehr psychische Erkrankungen?

Laut Studien bei schweren Psychosen nicht. Aber psychische Störungen, die etwa mit psychosozialen Faktoren zusammenhängen, haben spürbar zugenommen. Stress am Arbeitsplatz und Arbeitslosigkeit spielen eine große Rolle dabei. Depressive Störungen verursachen inzwischen die meisten Fehlzeiten.

Erklären Sie doch einmal kurz den Unterschied . . .

Psychosen sind Störungen, die mit Wahnvorstellungen oder Trugwahrnehmungen einhergehen – jemand sieht z. B. etwas oder hört Dinge, die andere nicht wahrnehmen.

Bei psychischen Erkrankungen, die auch von psychosozialen Faktoren abhängig sind, spielen die Beziehung zwischen der Persönlichkeit und ihrer Umwelt eine Rolle. Depressionen sind die häufigste Erkrankung. Suchterkrankungen gehören auch dazu – hierzulande ist das vor allem die Alkoholabhängigkeit.

Welche Faktoren sind Ihrer Meinung nach dafür verantwortlich, dass immer mehr an Depression, Angst- und Suchterkrankungen leiden?

Grob zusammengefasst fehlt einerseits häufig eine Einbindung in soziale Gruppen, in Familien, wo man sich zurückziehen und auftanken kann, wo man Rückhalt hat. Auf der anderen Seite steigen die Anforderungen in Schule, Ausbildung oder Beruf. Gleichzeitig fehlt vielleicht auch eine Perspektive. Beides ist schlecht für die Psyche. Vor allem die Arbeitslosigkeit: Wenn jemand die Hoffnung auf einen Job verliert, wenn der Sinn wegfällt. Arbeit ist ja auch Teilhabe, verstärkt das Selbstwertgefühl und gibt dem Leben eine Struktur.

Wie kann die Medizin bei Depressionen helfen?

Heute versuchen wir einen ganzheitlichen Ansatz in der Psychiatrie. Wir erfassen den Patienten in seinen psychologischen, sozialen und biologischen Bedingungen – wollen verstehen, warum jemand so oder so geworden ist. Es gibt zwei Ansätze: Entweder versucht man, bestimmte Entwicklungsschritte nachreifen zu lassen, das wäre der tiefenpsychologische Weg. Oder man sieht sich die Muster an, nach denen jemand arbeitet und versucht, diese zu verändern – im Sinne eines verhaltenstherpeutischen Ansatzes.

Der soziale Ansatz untersucht, wie weit etwas an der Umgebung verändert werden kann. Das läuft in einigen Fällen leider auch auf Änderung der Arbeitsplatzsituation oder gar Verrentung hinaus.

Der biologische Ansatz bedeutet, dass man ab einer gewissen Depressionsstärke Medikamente nimmt. Diese können Betroffenen helfen, wenn das Fühlen eingeschränkt ist. Pillen machen nicht automatisch gute Gefühle, aber sie ermöglichen es dem Patienten, dass er wieder mehr gute Gefühle wahrnehmen und auch auf seine Umwelt reagieren kann.

Wann sollte man sich denn Hilfe suchen?

Seelische Schwankungen kann jeder Mensch mal haben. Das ist ganz normal. Wenn man aber ein Problem bei der Bewältigung seiner Arbeit oder des Alltags hat, und das immer schlimmer wird, dann sollte man sich Hilfe suchen.

Gerade bei Depressionen sind Durchhalteparolen überhaupt nicht hilfreich. Es sind übrigens oft sehr fleißige, leistungsbezogene Menschen, die in Depressionen abgleiten.

Man sollte mit dem Besuch beim Arzt oder Therapeuten also nicht zu lange warten?

Genau. Viele Hausärzte sind kompetent und haben sich weitergebildet. Es gibt ja auch körperliche Störungen, wie etwa Rückenschmerzen, die psychisch mitverursacht sind.