Vest. Rückenleiden stehen auf Platz eins der häufigsten Krankheiten. Gleich danach kommen mittlerweile die seelischen Leiden. So jedenfalls stellt es der aktuelle Barmer-Gesundheitsreport fest.
Der Anteil psychischer Erkrankungen an den Fehlzeiten am Arbeitsplatz habe sich bundesweit von 11,1 Prozent im Jahr 2003 auf 16,8 Prozent im Jahr 2008 erhöht. „Im Vestischen Kreis und in Herne liegen wir mit 18,4 Prozent deutlich über dem Durchschnitt”, so Harald Beisemann (60), Regionalgeschäftsführer der Barmer im Kreis Recklinghausen. Auch die Erkrankungsdauer nehme zu, lautet ein Ergebnis der Kassen-Untersuchung. Dass die Fälle psychischer Erkrankungen zunehmen – gemeint sind vor allem Depressionen – kann auch Claudia Müller, stellvertretende Sprecherin der Knappschaft, bestätigen. Aus dem Kreis Recklinghausen kämen pro Woche fünf bis acht Anträge für eine psychotherapeutische Behandlung, „die Schlagzahl hat sich erhöht”, so Claudia Müller. Mittlerweile gehe die Knappschaft dazu über, auch private Therapeuten, die eigentlich keine Vertragspartner der Kasse sind, ergänzend heranzuziehen, „um Wartezeiten für Versicherte gering zu halten”.
„Wir sind chronisch überbelegt”, vervollständigt Dr. Luc Turmes das Bild. Der 52-Jährige ist Ärztlicher Direktor der Hertener LWL-Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik. 172 stationäre Betten und 60 Tagesklinik-Plätze stehen hier zur Verfügung. Die Belegung beträgt 100 Prozent, die Verweildauer sinke, „aber nicht, weil unsere Behandlung so viel besser geworden wäre, sondern weil die Gesündesten hinten raus müssen, damit die sehr Kranken vorne rein können”, sagt Dr. Luc Turmes. Eine Entwicklung, die er seit drei, vier Jahren beobachtet. Wissenschaftlichen Studien zufolge, so Turmes, nehmen die psychischen Erkrankungen nicht zu, „aber die Diagnosestellung ist besser geworden”. Obwohl: „Von 100 Betroffenen wird bei 45 die richtige Diagnose gestellt, nur 15 bekommen aber die richtige Behandlung”, sagt der Klinik-Direktor. Und nennt eine Zahl, die schon länger bekannt sei: „40 Prozent der Menschen, die sich das Leben nehmen, waren in der Woche vorher bei ihrem Hausarzt.”
Gründe für die depressiven und suizidalen Tendenzen sind laut Dr. Luc Turmes ein insgesamt raueres gesellschaftliches Klima. „Die soziale Unterstützung ist schlechter geworden.” Der Arbeitsplatz spielt bei der Erkrankung der Seele eine wichtige Rolle. „Patienten klagen mehr über Mobbing”, weiß Dr. Bernhard Nordhues, Recklinghäuser Facharzt für Neurologie und Psychiatrie und Sprecher des Qualitätszirkels. „Viele gehen mit Angst zur Arbeit.” Stichworte sind hier wachsender Konkurrenzdruck und die Sorge um Kündigung. Die hiesige schlechte wirtschaftliche Situation ist ebenfalls für Harald Beisemann von der Barmer eine Ursache für den Anstieg der Fehlzeiten im Vest wegen psychischer Erkrankungen. „Die Lage am Arbeitsmarkt ist gerade im nördlichen Ruhrgebiet nicht rosig.”
Führungskräfte sensibilisieren
Die Kassen interessieren sich auch wegen der Kosten für das Thema psychische Erkrankungen. In Deutschland beliefen sich diese auf knapp 26,7 Milliarden Euro, so Prof. Dr. Rainer Wieland von der Bergischen Universität Wuppertal, Autor des Gesundheitsreports der Barmer. Diese fordert eine Diskussion darüber, wie durch unternehmerisches Handeln nachhaltig die psychische Gesundheit von Beschäftigten gefördert werden könne. Das bezieht sich auch auf das Verhalten von Führungskräften. „Sie sollten mehr auf die Sorgen und Nöte ihrer Mitarbeiter eingehen”, sagt Regionalgeschäftsführer Harald Beisemann. Es gehe um partnerschaftlichen Umgang und Offenheit. Die Kasse bietet Lehrgänge an, um Chefs und Betriebe dafür zu sensibilisieren.
AU-Tage, Arbeitsunfähigkeits-Tage, erhöhen sich auch dadurch, dass die Betroffenen oft lange auf die passende Behandlung warten müssen. Erster Ansprechpartner sei der Hausarzt, so Nordhues. Wenn sich abzeichne, dass es sich nicht um eine leichte Depression handele, die in ein paar Wochen vorbeigeht, „dann muss der Patient zum Facharzt”, erklärt Nordhues. „Wir bemühen uns, innerhalb von drei Wochen einen Termin für den Erstkontakt zu vereinbaren. Wenn es sich um einen Notfall-Patienten handelt, geht das auch innerhalb von ein, zwei Tagen.” Der Nervenarzt checke den Zustand des Betroffenen oder ob die Medikamentation stimme. Wenn er Bedarf für eine weiterführende Therapie feststelle, werde der Betroffene an an einen niedergelassenen Psychotherapeuten überwiesen. „Hier kann die Wartezeit drei Monate oder länger betragen.”