Mülheim. . Stücke-Zeit, das heißt auch: Für einige Tage steht Mülheim im Zentrum des bundesweisten Theaterinteresses. Das renommierte Festival begann am Samstag mit einem der Favoriten auf den begehrten Preis: „Gasoline Bill“ von Rene Pollesch. Wir sagen, wie die Chancen nach der Inszenierung stehen.

Von einem fulminanten Theaterabend und einer großartigen Ensembleleistung sprach Tilmann Raabke nach der Aufführung von „Gasoline Bill“ von Rene Pollesch, mit dem die 39. Stücke am Samstag vielversprechend in der fast vollbesetzten Stadthalle gestartet sind.

Raabke ist der neue Moderator der Publikumsgespräche und löst Gerhard Jörder bei der Vermittlungsaufgabe zwischen Publikum und Künstler ab, die sich an diesem Abend als gar nicht so leicht erwiesen hat. Pollesch-Stücke begeistern zwar, verstören durch ihren Wortschwall aber auch, so dass viele Fragen offen bleiben. Der Kammermusiksaal war daher auch so voll wie selten. Ob dann aber auch die richtigen Fragen zur Sprache kommen, aus denen sich dann ein fruchtbares Gespräch entwickelt, ist eine ganz andere Frage.

Die Inszenierung

Es läuft Popmusik, vier Schauspieler in Cowboykleidung treten durch einen Glitzervorhang, kommen zum Bühnenrand, rauchen und unterhalten sich über Mitmenschlichkeit, Hilfe, Psychologie und natürlich die Liebe. Sie ist eine traumatische Erfahrung. Es ist wie bei einem Intellektuellenstammtisch. Sehr theorielastig, hat aber auch viel Komik. Dann wälzen sich die Schauspieler auf der Bühne, tanzen wie in der Disco und schließlich rückt die sich drehende Hausattrappe ins Zentrum.

Pollesch hat dieses Bühnenbild ebensowenig wie die Kostüme in Auftrag gegeben. Auf diese Idee käme er nicht. Bühnenbildner Bert Neumann und Kostümbildnerin Nina von Mechow haben sie gestaltet, ohne das genaue Stück zu kennen. Darauf muss die Inszenierung reagieren. Und sie gewinnt deutlich an Fahrt. Die Schauspieler rennen, treiben das Bühnenbild wie ein Karussell an, es wird zur Gebetsmühle, in die der Text als großer Papierstapel geworfen wird. Das ist dann ein großer Spaß.

Auch Souffleur Joachim Wörmsdorf hat einen Auftritt, er kommt cool wie ein Revolverheld auf die Bühne, um seinen Text zu retten. Und zwischendurch geht es um das Theater selbst. Übernehmen die Schauspieler die Last der Emotionen, so dass der Zuschauer nicht mehr den Nachbarn erwürgen muss? Das ist die alte Idee von Aristoteles: die Katharsis, die Reinigung, die Tilgung der Leidenschaften.

Die Schauspieler

Die Akteure sind bei Pollesch Co-Autoren. Sie können auch Texte verwerfen. Er möchte ihnen nichts aufzwängen. Sie können aber auch durch Alltagsgeschichten, die er dann sprachlich verdichtet, den Text bereichern. „Improvisiert ist da nichts“, wie Schauspielerin Katja Bürkle betont. Auch wenn es so leicht aussieht. Wie sich die Schauspieler diese komplexe Textfülle merken können, beeindruckt das Publikum.

Die vier Schauspieler verschmelzen in ihrer Unterschiedlichkeit zu einem harmonischen Ganzen. Text, Schauspieler und Inszenierung sind für Pollesch ein Gesamtkunstwerk, ein Nachspielen des Textes an einem anderen Theater ist für ihn daher absurd und verboten. „Dann müssten die Schauspieler sich auch die ganze Theorie aneignen“, meint Schauspielerin Sandra Hüller. Dass sie diese Möglichkeit anzweifelt, klingt schon arrogant.

Die Stärken

Wie Pollesch hier humorvoll die Theorie mit Alltagssituationen verknüpft, ist sehr gut gelungen. Es sind Situationen, die in ähnlicher Form jeder erlebt hat. Die zuvorkommende Bedienung im Café, die mit der Stempelkarte und dem Gratiskaffee lockt, doch als die Karte voll scheint, kippt die Situation emotional, kommt es zum Konflikt, weil es eben doch nichts geschenkt gibt.

Die Schwächen

Die Textmasse, vor allem am Anfang, ist für den ahnungslosen Zuschauer auf Anhieb dennoch schwer zu fassen. Der Text gibt Anstöße, aber, wie oft bei Pollesch, gesellt sich zur Begeisterung die Überwältigung. Wer es noch einmal genauer lesen möchte, muss ein paar Jahre warten, bis der Text gnädigerweise veröffentlich wird. Aber er funktioniert auch an der Oberfläche.

Festivalbarometer

Im Steckbrief vor dem Festivalbeginn, und damit also auch vor der Inszenierung, haben wir Pollesch als einen der Favoriten gesehen. Jetzt lässt sich feststellen: Durch die Inszenierung hat der Text noch weiter gewonnen.