Mülheim. Als Roberto Ciulli 1980 das Theater an der Ruhr mitbegründete, war die Idee des Reisens zentraler Gedanke. Die Reise seines Lebens ist eng mit dem Modell des etwas anderen Theaters verbunden. Heute wird Ciulli 80 Jahre alt. Der vielfach ausgezeichnete Kulturbotschafter und Kosmopolit sieht durch die Augen eines Clowns auf die Welt.

Als Roberto Ciulli 1980 das Theater an der Ruhr mitbegründete, war die Idee des Reisens zentraler Gedanke. Die Reise seines Lebens ist eng mit dem Modell des etwas anderen Theaters verbunden. Heute wird ­Ciulli 80 Jahre alt. Der vielfach ausgezeichnete Kulturbotschafter und Kosmopolit sieht durch die Augen eines Clowns auf die Welt.

Was fasziniert Sie an Clowns?

Roberto Ciulli: Die Clownskunst schafft es in kurzer Zeit, meist ohne Text und großen Aufwand uns in eine Welt zu tauchen, in der die Gesetze der vermeintlich realen Welt nicht mehr gelten. Clowns sind Akrobaten, Jongleure und großartige Musiker. Wir finden diese Kunst in jeder Zeit der Menschheit und in allen Kulturen. Clowns sind Wesen zwischen Leben und Tod – es sind Schamanen.

Clowns spiegeln auch Lebensphilosophie?

Ciulli: Sie spiegeln einen bestimmten Blick auf die Realität. Im Zentrum steht der Konflikt zwischen dem Weißen und dem Roten Clown. Der Weiße Clown steht für Macht, Disziplin, Autorität, und das Geld – man kann sagen, für die Ratio und Intelligenz. Und der Rote Clown ist der Bauch, Anarchie, Chaos und Unordnung. Daran kann man den Blick auf die Welt und auf den Alltag durch alle Zeiten bis zum Ursprung der Welt interpretieren. Gott war der erste Weiße Clown und der Teufel der erste Rote Clown.

Ist der Clown auch ein bisschen die Rolle Ihres Lebens?

Ciulli: Ich habe den Clown seit meiner Kindheit in mir. Schon früh bin ich in den Widerstand gegenüber der Welt, in der ich geboren und groß geworden bin, gegangen. Ich fühlte mich als Fremder in der großbürgerlichen Familie, in einer Stadt des Geldes, die Milano ist, und in einer Gesellschaft, mit der ich nichts am Hut hatte. Durch meinen Widerstand habe ich mir schon mehrmals eine blutige Nase geholt, das heißt, eine rote Nase. Am Anfang eines Roten Clowns steht immer ein Schmerz, eine Verletzung. Auch mich hat das geprägt.

Hat sich das Gefühl der Fremdheit inzwischen verloren?

Ciulli: Meine Welt habe ich in Deutschland gefunden, die deutsche Sprache ist meine Sprache geworden, mein Mittelpunkt ist das Theater an der Ruhr, nicht Mailand und Italien, obschon ich dort bereits in den 1960er Jahren ein Theater gegründet hatte. Diesem Zelttheater habe ich den Namen Il Globo gegeben. Ich hatte schon damals die Intuition, dass die internationale Arbeit Aufgabe des Theaters ist.

Also, der Austausch mit der Welt als ein wichtiges Element?

Ciulli: Ja, wir haben das Theater von Mülheim aus in die Welt gebracht. Wir haben mit unseren Inszenierungen in 37 Ländern gastiert und Theater aus 35 Ländern nach Mülheim eingeladen – in 33 Jahren. Das Theater an der Ruhr ist folglich ein Synonym für „Il Globo“ und somit relativiert sich der Begriff der Provinz.

Und die Reise Ihres Lebens?

Ciulli: Reisen ist immer ein Experiment. Wenn ich ein Buch lese, wenn ich ins Kino gehe, wenn ich eine Aufführung im Theater sehe, beginne ich eine Reise. Natürlich muss man bereit sein, diese Reise als Chance, sich zu verändern, anzunehmen. Ein Mensch, der nach dem Lesen eines Buches und dem Sehen einer Aufführung derselbe bleibt, ist ein trauriger Tourist. Das ganze Leben ist eine Reise, eine Begegnung, aus der ich verändert zurückkehre. Ich habe sehr viele Erlebnisse und Sichtweisen, die mich geprägt und gewandelt haben. Alle Reisen ­haben etwas gebracht.

"Das Theater ist marginalisiert worden" 

Was waren prägende Erfahrungen bei Ihren Reisen?

Ciulli: In vielen Ländern waren wir Zeuge, wie die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinanderging. In Ecuador standen alte Menschen auf der Straße mit einer Schachtel Zigaretten, wo nur eine drin war, und sie haben versucht, diese eine Zigarette zu verkaufen. Ich nahm an, es könnte kein stärkeres Bild dafür geben. Doch ich wurde eines Schlechteren belehrt.

Machen solche Erlebnisse demütig?

Ciulli: Ja, und geduldig. Das gilt auch für den Regisseur. Er muss genau aufpassen, intensiver hingucken und zuhören. Nicht denken, dass du alles weißt und für jedes Problem eine Lösung hast. In jeder Situation steckt Potenzial. Das ist wesentlich für die Arbeit eines Regisseurs – alles so vorzubereiten, dass der Zufall positiv zuschlagen kann. Oft ist der Zufall der bessere Regisseur.

Vom Fabrikarbeiter zum internationalen Theatermann

Roberto Ciulli wurde am 1. April 1934 in Mailand geboren. Er schloss sein Studium der Philosophie an den Universitäten von Mailand und Pavia mit einer Promotion über Hegel ab. Mit 26 Jahren gründete er das Zelttheater „Il Globo“.

1965 zog es den Theatermann nach Deutschland, wo er zunächst als Fabrikarbeiter und Fernfahrer jobbte. Sein künstlerischer Weg begann in Göttingen als Regie-Assistent und Regisseur. 1972 wechselte er zum Schauspiel Köln, um dort als Schauspieldirektor gemeinsam mit Hansgünther Heyme Mitbestimmungstheater zu realisieren. 1979 ging er dann als Regisseur ans Schauspielhaus Düsseldorf.

Die Idee eines etwas anderen Theatermodelles konnte Roberto Ciulli mit Dramaturg Helmut Schäfer und Bühnenbildner Gralf-Edzard Habben verwirklichen, als sie 1980 das Theater an der Ruhr gründeten. Schon damals hat sich das Theater der internationalen Kulturarbeit verpflichtet. Seither gastiert das Ensemble auf Bühnen und bei Festivals im Ausland, holt Gruppen aus anderen Ländern nach Mülheim. Eine enge Kooperation mit der Türkei begann bereits 1987.

Zahlreiche Stücke inszenierte Ciulli bislang am Raffelberg, geht aber auch mit Theaterprojekten wie 2003 in einer Forensischen Psychiatrie außergewöhnliche Wege.

Für sein politisches und interkulturelles Engagement wurde Ciulli vielfach ausgezeichnet: darunter das Bundesverdienstkreuz, der polnische Kulturorden, der Preis der Hiroshima-Foundation Stockholm, ein Preis für kulturelle Verständigung in Teheran und zuletzt in 2013 mit dem Staatspreis NRW, die höchste Auszeichnung des Landes.

Sie sind 1965 nach Deutschland gekommen. Was hat sich gesellschaftlich verändert?

Ciulli: Das Theater bildet nicht mehr das Zentrum der Gesellschaft Es hat nicht mehr die Bedeutung, wie in den 1960er Jahren. Theater ist marginalisiert worden, das hat mit vielen Faktoren zu tun. Wir haben in den 1980er Jahren die Zeichen der Zeit gespürt, die zunehmende Ökonomisierung und so haben wir das Theater an der Ruhr gegründet.

Wie kann man denn gegen die Ökonomisierung steuern?

Ciulli: Indem man ihr andere Werte entgegensetzt. Wir brauchen ein anderes Verhältnis zur Zeit, wir wollen nicht so leben. Ich hoffe, die Menschen rebellieren gegen den eingeschlagenen Weg der totalen Ökonomisierung der Werte.

Sie werden jetzt 80 Jahre. Was wünschen Sie sich für den Umgang mit der älteren Generation?

Ciulli: Die Gesellschaft könnte mit den älteren Menschen mehr und Besseres anfangen. Der alte Mensch wird nur als Käufer geschätzt. Da müsste sich noch viel ändern.

Was haben Sie sich für das nächste Jahrzehnt vorgenommen?

Ciulli: Wenn man so alt wird, ist es weise, nicht wissen zu wollen, was morgen passiert. Ein Theatermensch hört nicht auf, ein Theatermensch zu sein ebenso wie ein Clown. Der große Abschied – das ist der Tod.