Mülheim. Wer vor dem Fachkräftemangel Angst hat, der bildet aus. Eigentlich eine logische Devise. Die Situation vor Ort entspricht ihr aber nicht: Aktuell gibt es mehr Bewerber als Lehrstellen. Die Sozialagentur sieht die Betriebe in der Pflicht - und hält den Fachkräftemangel gleichzeitig für einen Mythos.

Über Fachkräftemangel lässt sich gut klagen. Wesentlich mehr Anstrengung kostet es, ihn zu beheben. Und an genau dem Willen dazu mangelt es ebenfalls.

Darauf hat die Chefin der Bundesagentur für Arbeit NRW, Christiane Schönefeld, hingewiesen. Ihr Beispiel: die Lehrstellensituation. Zwar werde von Verbandsvertretern stets vor dem Fachkräftemangel gewarnt, die richtige Konsequenz werde aber kaum gezogen: mehr auszubilden. So stehen aktuell in NRW 95.000 Bewerber nur 75.000 Stellen gegenüber. Auch in Mülheim besteht diese Diskrepanz: Zuletzt kamen auf 982 Stellen 1247 Bewerber. „Optimal wäre, wenn es ein Viertel mehr Stellen gebe als Bewerber“, sagt Jennifer Neubauer von der Sozialagentur. Sie sieht die Betriebe in der Pflicht: „Nach Möglichkeit sollte über Bedarf ausgebildet werden. Das ist Aufgabe der Wirtschaft.“

Mythos Fachkräftemangel?

Und der Fachkräftemangel? „Es wird nicht ohne Grund manchmal schon von einem Mythos gesprochen“, sagt Neubauer. Man dürfe nicht unterschätzen, dass Wirtschaftsverbände das Schlagwort nutzten, um ihre Interessen zu vertreten, nur eben unter dem Deckmäntelchen des Gemeinwohls. In Wirklichkeit gebe es auch in Zukunft ein hohes Potenzial an Erwerbstätigen: „Da spielen mehrere Faktoren eine Rolle: Die Schule ist verkürzt worden. Es gibt eine hohe Quote erwerbstätiger Frauen. Und dann gibt es auch noch Zuwanderung“, sagt Neubauer. Die Gefahr, dass Deutschland die Arbeitnehmer ausgehen, bestehe nicht.

Was sich geändert habe, sei die Situation der Betriebe - vor allem der kleinen und mittleren. Die Schwierigkeit liegt nicht an der Zahl von Fachkräften. Die Frage ist: Ist ein Betrieb für einen Azubi attraktiv? „Die Leute sind stärker auf schulische und akademische Abschlüsse ausgerichtet“, so Neubauer. Der Handwerksbetrieb steht anders als früher in direkter Konkurrenz zur Uni. Wenn der Meister einen guten Lehrling haben will, muss er diesem etwas bieten.

Das sagt die Wirtschaft

„Es geht letztlich um PR“, sagt Heinz-Jürgen Guß, der bei der Industrie- und Handelskammer für Aus- und Weiterbildung zuständig ist. „Die kleinen Betriebe brauchen ein Profil, mit dem sie für sich werben können. Sie müssen offensiv in der Öffentlichkeit nach Auszubildenden suchen. Dann kommen auch die Richtigen“, ist er sich sicher: „Die großen Unternehmen haben keinen Fachkräftemangel.“ Die seien immer noch attraktiv für qualifizierte Bewerber. So dass sich der Mittelstand tatsächlich Sorgen darüber machen müsse, ob für ihn dann noch genug Arbeitnehmer übrig bleiben. Und da helfe eben nur mehr Werbe-Initiative.

Das sagt das Handwerk

„Wir hatten in der Vergangenheit Jahr für Jahr gute Steigerungsraten, Bis zu fünf Prozent mehr Ausbildungsstellen“, unterstreicht Barbara Pezzei, Geschäftsführerin der Kreishandwerkerschaft. Nur: „Auch wenn die Stellenzahl erhöht wird, heißt das ja nicht automatisch, dass sich genug geeignete Kandidaten melden.“ Man dürfe nicht unterschätzen, dass viele Jugendliche überhaupt nicht ausbildungsfähig seien. Sie stört, „dass der Eindruck erweckt wird, wenn jemand nichts bekommt, dann ist das Handwerk zuständig.“ Dabei sei jedes Handwerk heute eine vor allem auch technisch anspruchsvolle Tätigkeit. Der Vorwurf, man würde zu wenig ausbilden, stimme also nicht. Das Handwerk ist aber eben auch nicht der Sozialarbeiter der deutschen Wirtschaft.

Für Jennifer Neubauer von der Sozialagentur stehen aber die Betriebe in einer Pflicht. Aber sie betont auch: Die Zusammenarbeit läuft dank des U-25-Hauses, wo gezielt Jugendliche auf eine Ausbildung vorbereitet werden, in Kooperation mit der Wirtschaft gut. „2013 konnten nur vier Leute, die bei uns waren, nicht vermittelt werden. Das ist eine sehr gute Quote.“