Mülheim. Der beschwerlichen Wanderschaft bis zur letzten Station des Winters haben sich zehn Darsteller des „Volxbühnen“-Ensembles (Spätlese) angeschlossen. In ihrer Inszenierung des Jelinek-Stücks „Winterreise“ nehmen sie Zuschauer mit auf eine schonungslose Abrechnung mit der Zeit.

Was zieht da mit, was zieht da mit mir mit, was zieht da an mir?“, heißt es in der „Winterreise“ von Elfriede Jelinek. Es ist die Zeit und sogar das Vorbei läuft vorbei. Immer nur gehen. Da macht schon mal die Uhr schlapp. . . Die „Alten“ trauen sich was, gehen nach vorne und erheben ihre starke Stimme. Sie proklamieren Jelineks schonungslose, ja verzweifelte Abrechnung mit der Zeit, Einsamkeit und Vergänglichkeit, dem Älterwerden und nicht zuletzt mit sich selbst als Frau in der ihr übergestülpten Rolle. „Vorbei ist vorbei und ich bin bereits ein anderer.“ Stets begleitet von den Schatten der Vergangenheit.

Der beschwerlichen Wanderschaft bis zur letzten Station des Winters, wo mit jedem Blatt die Hoffnung abfällt, haben sich zehn Darsteller des „Volxbühnen“-Ensembles (Spätlese) angeschlossen. Sie geben ihr Bestes, meistern die irrlichternden Wortkaskaden mit Wiederholungen und Verdrehungen mit Bravour. Mal solo mit Monologen, mal im Duett oder im Chor treten die neun Frauen und ein Mann an den Bühnenrand und schleudern ihre Enttäuschung, Erinnerungen, ihre Einsamkeit, Wut und Angst vor dem, was da kommt, ins Publikum: höchst glaubwürdig, wirklichkeitsnah und anrührend.

Rezitations-Theater mit beweglichen Bühnenelementen

Zum eindringlichen Rezitations-Theater kommen bewegliche Bühnenelemente ins Spiel, die wie tickende Zeitzeichen über die Bühne sausen, sich als weiße Wand zum Bollwerk zunehmender Leere formieren oder durch die zaghaft kleine Fetzen der Erinnerung dringen. Klangcollagen, Songs und Beleuchtung verdichten das Bühnengeschehen atmosphärisch.

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Mit der Inszenierung des zeitgenössischen Stückes hat Regisseur und Theaterleiter Jörg Fürst sein Debüt in Mülheim gegeben. Gemeinsam mit dem Ensemble hat er sich auf Neuland gewagt. Keine leichte Aufgabe, denn der starke, aber schwierige Text speist sich durch die Aneinanderreihung von emotionalen und verschlungenen Wortkonstruktionen.

Ernster, intensiver Abend

Ein ernster, intensiver Abend, der auf schmalem Grat zwischen Desillusion und Hoffnung balanciert, und der noch lange nachhallt.

Nach dem gleichnamigen Liederzyklus von Franz Schubert hat sich die Literaturnobelpreisträgerin mit „Winterreise“ auf Wanderschaft in die innere Emigration begeben. Die Autorin, die zurückgezogen lebt, thematisiert in diesem sehr persönlichen Stück auch die schwierige Beziehung zu ihren Eltern, der Hassliebe zur Mutter und die Demenzerkrankung ihres Vaters, die in die Psychiatrie führte.

Schon einmal kam Jelineks „Winterreise“ in Mülheim auf die Bühne: In der Inszenierung von Johan Simons an den Münchner Kammerspielen wurde das Stück 2011 mit dem Mülheimer Dramatikerpreis ausgezeichnet.