Mülheim. Wie die NRZ-Redaktion gestern über die Große Koalition diskutierte und dabei Parallelen zu vielen Lesern und Gesprächspartnern feststellte. Eine Gesprächsnotiz.

Redaktionen sind auch nichts anderes als Marktplätze. Menschen kommen zusammen und mit ihnen Meinungen. „Große Koalition hat Großes vor, sonst ist sie größerer Mist als Opposition“, brummte ein Kollege (okay, es war der Redaktionsleiter) in der Redaktionskonferenz gegen 11 Uhr. Es war der Auftakt zu einem munteren Gespräch unter vier Männern im Alter von 34 bis 51, die alles andere als repräsentativ, aber gar nicht so weit weg von der Büdchenfrau unseres Vertrauens sind: „Der Koalitionsvertrag ist wie Weihnachten“, hatte die am Morgen gesagt: „Man schreibt einen Wunschzettel und am Ende gibt es doch nur Krawatten und Plätzchen“.

Hat die Frau Recht? Bringt sie das Empfinden vieler auf den Punkt?

Nun, festzuhalten ist, ihr Nachsatz war: „Aber schreiben sie das nicht.“ Gut, tun wir ja auch nicht. Aber in diesen Tagen haben wir vielfach festgestellt, dass die geäußerten Einschätzungen zur Großen Koalition sich von den geplauderten unterscheiden. Deutlich. Nicht alle gehen mit ihrer gefühlten Wahrnehmung so offensiv um wie der Alt-Gewerkschafter und Sozialdemokrat Willi Bruckhoff („Die Schwarzen haben noch nie was für die Arbeiter getan“). Dabei: Wenn wir den Block weglegen oder dem Grundrauschen der Alltagsbegegnungen zuhören, wenn wir mit Bankern sprechen oder Polizisten oder dem Kurzdialog beim Bäcker lauschen - dann hören wir viel von dem, was auch in unserer Redaktionskonferenz Thema war und in der Kollege Emons staunte, wie es eigentlich zu Meinungsumfragen kommt, in denen über 50 Prozent die Große Koalition befürworten: „Mit meiner Erfahrung deckt sich das nicht“.

"Von Mindestlohn habe ich nur etwas, wenn ich einen Job habe"

Das geht uns nicht alleine so. Die Schaltkonferenz der NRZ-Redaktionen am Mittag begann mit Verspätung, weil in vielen Redaktionen „heftig diskutiert“ wurde. Worüber? Eben, darüber.

Ein Mindestlohn 2015, „spätestens 2017“, wie es im Koalitionsvertrag steht, also zur nächsten Wahl: „Da weiß man, dass 2017 nicht das drin ist, was jetzt draufsteht“, bemerkt Kollege Tost zweifelnd im vertrauten Rund. Oder wie es ein Busfahrer am Vorabend sagte: „Vom Mindestlohn habe ich nur etwas, wenn ich einen Job habe.“

Die Union wollte keinen Politikwechsel

Zuviel der Skepsis? Vielleicht. Aber der Vertrag ist im Grunde gar kein Vertrag, sondern eine Absichtserklärung mit über 100 Prüfaufträgen, wie Kollege Sasse erwähnt. Prüfaufträge, das weiß man aus dem Rathaus, betreffen meist Vorhaben, für die die Politik nicht einstehen will oder für die es keine Mehrheit gibt. Anders gesagt: „Die Beamten des Bundes wissen jetzt für die nächsten vier Jahre, was sie zu haben. Für was Neues wird da keine Zeit mehr sein.“

Was Neues? Das Neue hätte ja auch das gar nicht mal so alte sein können. Schon vergessen? „Merkel steht für Stillstand“ hatte SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück getönt und den „Politikwechsel“ gefordert, mit höheren Steuern für Spitzenverdiener, der Abschaffung des Betreuungsgelds, mit einer Regulierung des Finanzmarkts. Jetzt wechselt nicht die Politik, nur die SPD. Und Frau Merkel wechselt einen Begriff. Mindestlohn statt Lohnuntergrenze.

Na, denn.

Die Union wollte keinen Politikwechsel, sie bekommt ihn auch nicht. Die SPD wollte ihn, bekam die Union und behauptet den Wechsel. Am Ende, 2017, darf ein neuer Kandidat versuchen, aus enttäuschten Erwartungen mehr als 20 Prozent zu holen. Hannelore Kraft wird das nicht sein. „Ich hab alles beim ersten Mal geschafft“, hat sie mal über sich gesagt.

Ein bisschen "weiße Salbe"

Die von den Parteispitzen stereotyp wiederholte Losung hat mit diesen Betrachtungen wenig gemein. „Viel erreicht“, so heißt es, bei der CDU etwas leiser, weil ihr größter Erfolg etwas ist, was es gar nicht gibt (Steuererhöhungen), bei der SPD viel lauter, weil 470 000 Mitglieder es hören sollen. Aber was ist viel? Manches erfreut; die abschlagsfreie Rente nach 45 Beitragsjahren, die Mütterente, vor allem die Mütter, weniger ihre Kindeskinder. Die werden den milliardenschweren Sockel auf Dauer finanzieren müssen. „Eine reine Wohltat“, sagt Kollege Tost, „der demografischen Entwicklung spricht das Hohn“.

Oder Gesundheit. Der Zusatzbeitrag ist einkassiert, aber die seit Jahren überfällige Grundsatzentscheidung über eine haltefähige Struktur des kranken Gesundheitssystems, das längst in der Zwei-Klasse-Medizin angekommen ist, die es immer vermeiden wollte - Fehlanzeige. Wie auch? Die prinzipielle Antwort der einen lautete Kopfpauschale, die der anderen Bürgerversicherung. Im Prinzip aber verhindern Große Koalitionen prinzipielle Antworten. Ein bisschen „weiße Salbe“ hat ein Arzt gesprächsweise ausgemacht („kein Name, bitte“); ein bisschen Beitragssicherheit, ein bisschen weniger Wartezeit. „Sie kommen jetzt schneller zu den Ärzten, die es bald nicht mehr gibt“, sagte der Mediziner in einem Anflug von Sarkasmus.

"Zu einer Wahl gehört eine Alternative"

Was also löst diese Koalition? Alle Regierungen in Deutschland hatten ein Leitthema, einen Refrain des Regierens. Adenauer den Wiederaufbau, Brandt die Ostpolitik und den inneren Wandel, Schmidt den Terror und die Aufrüstung, Kohl die Einheit, Schröder die Sozialreformen. Welches Thema hat diese Regierung? Die Redaktionsrunde sucht, aber findet nicht, vielleicht noch: „Einer muss ja regieren.“ An der Bruchstelle zu Klimaexzessen, Überalterung und Währungsnot ist das wenig. „Die Zeit und die Menschen sind lange reif, in guten Jahren das Land krisenfest zu machen“, das hatten so oder ähnlich alle Gesprächspartner gesagt. Stattdessen wird der Konjunkturüberschuss „verjuxt“, so sagte es ein Gewerkschafter, der aber zugegebenermaßen weder auf Mindestlohn noch auf Mütterrente angewiesen ist.

Kann sein, dass am Ende die SPD-Mitglieder für den Vertrag stimmen, weil sie nichts Besseres haben und eine Nach-Gabriel-Ära fürchten. Unser Gespräch jedenfalls endet nachdenklich. Wenn Wähler es den Politikern nachmachten und Probleme vom Ende her denken, am Ende aber feststellen, dass sie nur einen Aufguss des Weiter-so bekommen, dann ist es schon fast die politischere Entscheidung, nicht wählen zu gehen. Oder wie es der Kabarettist Volker Pispers schon vor Jahren gesagt hat: „Zu einer Wahl gehört eine Alternative.“

Und der war in der Redaktionskonferenz nicht mal zugegen...