Für die Funktionäre hört man immer dasselbe: Sie seien skeptisch gewesen, letztlich sei das Erzielte so überzeugend, dass sie beim Mitgliederentscheid der SPD mit ruhigem Gewissen mit Ja stimmen könnten. Aber was sagen die normalen Mitglieder von SPD und CDU?
Ist der Vertrag für die Große Koalition zwischen CDU, CSU und SPD ein großer Wurf oder ein großer Reinfall? Bisher haben sich dazu nur politische Funktionäre geäußert. Doch was sagen ganz normale Parteimitglieder, die frei von Amt und Würden reden können. Die NRZ fragte an der sozial- und christdemokratischen Basis nach.
„Ich werde selbstverständlich mit Nein stimmen, weil die Schwarzen noch nie etwas für die Arbeiter getan haben. Seit dem die dran sind, hat die Armut doch noch zugenommen. Das können wir uns nicht gefallen lassen. Und ich kann nicht verstehen, dass meine Partei vergessen hat, wie wir in der letzten Großen Koalition über den Leisten gezogen worden sind“, sagt der 79 Jahre alte Bergmann Willi Bruckhoff aus Winkhausen, der sich seit 65 Jahren in den Gewerkschaften und seit 48 Jahren in der SPD engagiert. Aus seiner Sicht war es ein strategischer Fehler, dass die SPD vor der Wahl ein rot-rot-grünes Regierungsbündnis ausgeschlossen hat.
Auch der 67-jährige Ortsvereinsvorsitzende der SPD, in Holthausen, Rainer Fiddecke, bekommt bei der Aussicht auf eine Große Koalition Bauchschmerzen und überlegt noch, ob er den Koalitionsvertrag ablehnen soll. Dabei kritisiert er weniger den Inhalt des Vertrages als vielmehr die abschätzigen Kommentare, die er in den letzten Tagen aus den Reihen der Union gehört hat, wenn es um den Mitgliederentscheid bei der SPD ging. „Ich stelle mir trotz des aus SPD-Sicht guten Verhandlungsergebnisses die Frage, ob das mit der CDU in einer Koalition gehen kann und ob wir am Ende in der politischen Praxis nicht doch über den Tisch gezogen werden könnten“, fragt sich Fiddecke, der seit 1970 in der SPD aktiv ist.
Sein Genosse Jochen Keienburg (73) aus dem Ortsverein Stadtmitte will die Große Koalition ablehnen, „weil die SPD nur als eine vernünftige Opposition ihr politisches Profil wieder schärfen und sich als sozialdemokratische Partei neu aufstellen kann.“ Dagegen fürchtet er, dass die Neuauflage einer Großen Koalition „vieles von dem, was das Profil unserer Partei ausmacht, auf der Strecke bleiben wird.“
„Es wird zwar immer etwas besseres geben als eine Große Koalition. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass wir nur 25 Prozent der Stimmen bekommen haben und nur in der Regierung wirklich etwas bewegen können“, plädiert dagegen der ehemalige SPD-Fraktionschef Hans Meinolf (83) für eine Annahme des Koalitionsvertrages, „weil das Verhandlungsergebnis am Ende doch besser geworden ist, als ich es vorher erwartet hätte.“
„Ich bin eigentlich ganz zufrieden“, sagt auch der ehemalige Fraktionschef der CDU, Paul Heidrich (67) Er freut sich vor allem darüber, dass ein gesetzlicher Mindestlohn und die Einschränkung der Leiharbeit im Koalitionsvertrag verankert worden sind. „Der Mindestlohn ist mir das Wichtigste“, sagt auch der Dümptener Sozialdemokrat und Alt-Bürgermeister Günter Weber (78). Dennoch ist die Zustimmung zum Koalitionsvertrag für ihn „ein saurer Apfel, in den ich beißen werde, weil wir als Sozialdemokraten eine Verantwortung für das Land haben und nur in einer Regierung mitgestalten können.“ Ausgesprochen schade findet er, dass die Große Koalition die oberen zehn Prozent der Einkommens- und Vermögenspyramide nicht stärker an der Lösung der Finanzprobleme des Staates beteiligen möchte.
Der 67-jährige Stefan Borrmann, der in der Stadtmitte lebt und seit 1966 Sozialdemokrat ist, weiß noch nicht, ob er dem Koalitionsvertrag zustimmen wird. „Das ist nicht das, was die Partei will“, kommentiert er die regionalen Ausnahmeregelungen für den gesetzlichen Mindestlohn. Eine Große Koalition, mit der er sich anfreunden könnte, müsste auch den Mut haben, „Steuersubventionen abzubauen, die unsere Gesellschaft teuer zu stehen kommen.“
Für den evangelischen Theologen Gerhard Bennertz, der sich seit 50 Jahren in der CDU engagiert, ist die Bildung der Großen Koalition, die sich jetzt abzeichnet der Beweis dafür, „dass sich in einer Demokratie auch Parteien mit unterschiedlichen Positionen zusammenraufen können und müssen, um unser Land und seine Gesellschaft voranzubringen.“ Der Dümptener Christdemokrat Dirk Hübner (68), der sich seit 16 Jahren in der Partei engagiert, hätte sich zwar eine deutlichere CDU-Handschrift im Koalitionsvertrag gewünscht und steht einem flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn skeptisch gegenüber. Er glaubt aber, „dass uns Neuwahlen auch nicht wirklich weiter voranbringen würden.“ Positiv findet Hübner, dass die Union eine Mütterrente durchgesetzt hat.
Der in der IG Metall und in der Arbeitsgemeinschaft 60 Plus engagierte Sozialdemokrat Rudolf Gerke aus Holthausen sieht gerade die Mütterrente skeptisch. „Wie soll das bezahlt werden?“ fragt sich der 73-Jährige, der 1970 in die SPD eintrat. „Damals hatten wir mit Willy Brandt noch eine echte Leitfigur und konnten deshalb auch nach dem Ende der ersten Großen Koalition 1969 eine sozialliberale Regierung bilden“, erinnert sich Gerke etwas wehmütig.
Heute sieht er keine vergleichbare Leitfigur in der SPD und zu viel „Wischiwaschi“ im Koalitionsvertrag. Er fürchtet, dass wichtige soziale Weichenstellungen beim Mindestlohn und bei der Rente „zu weit in die Zukunft herausgeschoben könnten.“ Deshalb denkt er auch noch darüber nach, ob er dem Koalitionsvertrag seine Zustimmung geben kann.