Mülheim. Das Mülheimer Theater reiste als erstes deutsches Ensemble durch Algerien und spielte dort an drei Orten. Die Reihen blieben oft leer. Theaterregisseur Roberto Ciulli will aber nicht von einem Misserfolg sprechen. Im Gegenzug werden nun zwei algerische Stücke im Theater am Raffelberg zu sehen sein.
Endlich strömen die Zuschauer ins Theater. Man hört es deutlich am Piepen des Metalldetektors, der wie am Flughafen am Eingang des Theaterfoyers aufgebaut ist. Nur so gewissenhaft wie am Airport wird hier nicht kontrolliert. Der Alarm schlägt praktisch bei jedem Besucher an, denn ihre Taschen leeren die Besucher erst nach der Schleuse und ob das dann auch alles ist, was da die Kontrolleuren zu sehen bekommen, überprüfen sie nicht weiter. Es ist also recht sinnlos. Am Ende werden es knapp 200 Besucher sein, die sich im Nationaltheater in Algier die Woyzeck-Inszenierung anschauen. Jung und westlich orientiert wirken die meisten.
Als Rupert Seidl in der Titelpartie später nackt dasteht und von Dagmar Geppert als Marie gewaschen wird, ist die Empörung im Parkett deutlich zu hören. Ein Zischen, ein Raunen und schon verlässt ein gutes Dutzend die Vorführung. Weitere schließen sich an. Die Reaktion ist weitaus heftiger als bei Kaspar. Später wird Ciulli Seidl kritisieren, dass er sich zu spät angezogen habe, als Schauspieler müsse er die Stimmung im Saal spüren. Das trifft den Schauspieler doppelt hart. Der Applaus ist dafür lang und ausgiebig.
Kein Misserfolg der Algerienreise
Von einem Misserfolg der Algerienreise angesichts der vielen freien Plätze möchte Ciulli nicht reden. „Wir haben den Anfang gemacht“, sagt er, wie so oft schon. Nicht die Masse zähle, das wäre die falsche Einstellung. Aber die Enttäuschung ist ihm anzusehen.
Der 79-Jährige, der am Mittwoch mit dem NRW-Staatspreis ausgezeichnet wird, erzählt, um das ganze zu relativieren, von einem Gastspiel des Kölner Schauspielhauses in den 70er Jahren mit Wallenstein in Mailand, als sich auf der Bühne mit 50 Akteuren mehr Menschen drängten als sich in den Zuschauerreihen verloren.
Die Zuschauerresonanz war auch Thema beim Empfang des Botschafters Götz Lingenthal. Schauspieler Albert Bork erzählt sichtlich verärgert, dass er auf der Straße wiederholt von Deutsch sprechenden Menschen angesprochen worden sei. Die hätten von den Aufführungen gar nichts gewusst, sie aber gerne gesehen. Hätten Goethe-Institut und Botschaft im Vorfeld das Ensemble nicht besser unterstützen können? Eine Rundmail habe es gegeben, versichert der Kulturattachée. Aber nicht einmal bei den Studenten, die Algier Deutsch studieren, war das Gastspiel bekannt, beklagt Ciulli später. Hinzu komme, dass das Land keine Theatertradition habe. Es gebe zwar 15 Regionaltheater, fünf weitere seien in Planung sowie an die 30 Kulturhäuser als Gastspielorte, es gebe aber nur wenig professionelle Ensembles. Theater werde noch als Erbe der französischen Kolonialzeit wahrgenommen und abgelehnt. Ciulli bedauert, dass nach keiner Aufführung ein Publikumsgespräch möglich war, die er wichtig findet. Gewünscht habe man sich das. Spontan könne man das nicht organisieren, weil man die Menschen in einem Land mit starken islamistischen Bestrebungen, überfordere, wenn man sie bedränge. „Das Politische verlagere sich hier ins Private.“
Theater aus Bejaia am Raffelberg
In Bejaia im Festivalort immerhin, wo der agile Festivalchef und Autor Omar Fetmouche für eine gute Organisation gesorgt habe, war das Haus ausverkauft. Ciulli ist Fetmouche schon 2002 bei seiner ersten Algerienreise begegnet. Damals war dieser noch kein Festivalchef. Er hatte ein kleines Theater, 200 Kilometer von Algier in den Bergen gelegen, dem Dreieck des Todes, wo es gefährlich war, weil dort noch gekämpft wurde. Ciulli hatte sich damals dort eine Aufführung angesehen, nach Mülheim schließlich ein anderes Ensemble eingeladen. Ein Stück von Fetmouche („Arfia im Schweigen der Nacht“) und dem Theater aus Bejaia ist jetzt am kommenden Sonntag um 19.30 Uhr am Raffelberg zu erleben. Und weil Ciulli schon vor zehn Jahren, zu einer weitaus unruhigeren Zeit, kulturelle Kontakte mit Algerien knüpfte, wird er beim Festival in Bejaia auch besonders gefeiert.
In Bejaia läuft nicht alles reibungslos
Aber auch in Bejaia läuft nicht alles reibungslos. Rolf Hemke, der für das Haus die internationalen Kontakte knüpft, macht sich mit einigen Schauspielern auf den Weg, um in einem Vorort das Stück einer Truppe aus Kurdistan zu sehen. Es soll im Kulturzentrum in der Nähe des Rathauses gespielt werden. Der Taxifahrer kennt den Ort nicht. Hemke fragt einen Fußgänger vor dem Rathaus. „Ihr könnt Deutsch mit mir reden. Ich bin halber Berliner. Die Aufführung ist im Kino“, sagt dieser und weist den Weg. Die Theaterleute sind skeptisch, aber der Hinweis erweist sich als zutreffend.
Morbide Gestalltung für Inszinierung
Das Kino ist ein Raum, den Gralf Edzard Habben für eine Ciulli-Inszenierung nicht morbider gestalten könnte. Die Farbe an den dunkel schimmernden Wänden ist abgeblättert, zahlreiche Sitze sind kaputt, entweder ist die Lehne oder die Sitzfläche abgerissen, viele Polster sind verschlissen, durchgesessen sind alle. Und die Reihen wackeln verdächtig. Eine Frau liegt auf der schwach ausgeleuchteten Bühne in einem Bett, sie liest in ihrem Text, ein Tropf wird vorbereitet.
Ein schlanker großer Schauspieler mit üppiger Dauerwelle, den alle nur Halo nennen, begrüßt die Gruppe herzlich und vertröstet sie. Sie kennen sich von der Gastspielreise und dem Gegenbesuch aus dem Vorjahr. Es gehe doch erst in eineinhalb Stunden los. Technische Probleme. Genug Zeit also für einige Schauspieler, sich am nahe gelegenen Strand in die Brandung zu werfen. Zum verabredeten Zeitpunkt hat sich in dem Kino immer noch nichts bewegt. Immerhin sind inzwischen ein Dutzend Zuschauer eingetroffen. Halo vertröstet erneut. Es würde eine weitere Stunde dauern, aber weil die technischen Möglichkeiten hier so unzureichend seien, sollten man es sich lieber am nächsten Tag nach der Kaspar-Aufführung im kleinen Haus in Bejaia kommen. Aber auch der Termin wird nicht gehalten.
Gute Qualität sei die Ausnahme
Am Abend ist dort libysches Theater zu erleben. Ein Monodrama über die Unterdrückung der Frau im Islam. „Versprechen Sie sich davon aber nicht zu viel“, warnt Hemke. Von Festivals , die er regelmäßig besucht, um interessante Produktionen für die Theater- und Musiklandschaften am Raffelberg auszuwählen, kennt er das Niveau. Gute Qualität sei die große Ausnahme. Der Saal ist gerammelt voll. Der ungelenke Auftritt der Schauspielerin bestätigt die Befürchtungen. Bessern wird es leider nicht, so dass wir vorzeitig den Saal verlassen.
In Libyen gibt es auch keine Theatertradition, an die man anknüpfen könnte. Im Gegensatz etwa zum Iran. Dort drängelten sich, als das Ensemble dort vor einigen Jahren beim Festival gastierte, schon eine Stunde vorher über tausend Zuschauer im völlig überfüllten Theatersaal und Hunderte hofften vor der Tür noch auf Einlass.
Nach der Woyzeck-Aufführung stehen die Schauspieler mit Ferhat Keskin und Petra von der Beek mit dem kasachischen Theatermann Bolat Atabajew zusammen, der im Kölner Exil lebt. Er möchte zurück in seine Heimat, aber dort droht ihm Haft. Im vergangenen Jahr war er festgenommen worden, weil er sich mit streikenden Gewerkschaftern solidarisiert hatte. Damals hatte Ciulli vor der Botschaft demonstriert. Atabajew ist sehr unzufrieden mit dem Festival. Mit seinem Kammerspiel hat man ihn in Bejaia auf ein viel zu große Bühne gesetzt und die Aufführung in Algier, die viele Mülheimer Gäste gerne gesehen hätten, fällt aus. Statt dessen dann eben Jelineks Sportstück auf Englisch.