Mülheim.
Sie brachen auf in eine unbekannte Welt – mit leeren Taschen und dem Kopf voller Träume. Jorge Escanilla-Rivera und Sayed Siam sind zwei von neun ehemaligen Gastarbeitern, die an dem Projekt „Ehemalige Gastarbeiter zu Gast in Schulen“ teilnehmen. In diesem berichten sie Schülern der Karl-Ziegler- und der Willy-Brandt-Schule aus ihrer Biografie.
Die Geschichten der Zeitzeugen verarbeiteten die Schüler kreativ, zu Bildern und Texten, die sie vom 17. Oktober bis zum 23. Dezember unter dem Titel „Der Traum vom Paradies: Deutschland?!“ in der Heinrich-Thöne-Volkshochschule ausstellen.
Mit dem Schiff nach Europa
Für die Einladungskarte hat eine Karl-Ziegler-Schülerin Sayed Siam gemalt, wie er als 21-jähriger Mann an der Reling eines Schiffes steht, den Blick auf den Horizont gerichtet. Es steht stellvertretend für die neun Zeitzeugen, die ihre Geschichten vor fünf Klassen erzählten. Sayed Siam, 1935 in Kairo geboren, demonstrierte schon als junger Mann auf der Straße gegen die Diktatur. Fasziniert war er stets von den Deutschen, die „so präzise und diszipliniert arbeiteten“. „Maschinenbau zu studieren war mein Traum.“ Also stach er zusammen mit zwei Freunden 1959 von Alexandria aus in See Richtung Rom. Von dort ging es weiter mit dem Zug nach München.
„Als wir ankamen war es November und bitterkalt“, berichtet Siam. Die Freunde schlugen sich durch bis nach Essen, wo sie im CVJM-Heim unterkamen und zunächst Arbeit in der Weinkellerei Krupp-Konsum fanden. „Wir als Muslime waren dort die einzigen, die abends nüchtern nach Hause gingen.“ Später arbeitete er bei Siemens in der Fräserei und büffelte nebenbei Deutsch in der Sprachschule. Er arbeitete sich hoch, schaffte seinen Facharbeiter-Brief und studierte ab 1972, um später im Ingenieurbüro bei Siemens zu arbeiten. Seinen drei Kindern konnte er eine gute Ausbildung ermöglichen, „was mir immer sehr wichtig war“.
Per Anhalter nach Mülheim
„Ich wollte nicht nur auf einem Plakat erscheinen, sondern als Mensch mit Hintergründen“, sagt der gebürtige Chilene Jorge Escanilla-Rivera, der seit über 40 Jahren in Deutschland lebt. „Daher habe ich bei dem Projekt mitgemacht und den Schülern aus meinem Leben erzählt.“ Emotional sei es für ihn selbst gewesen, die Stationen seiner Auswanderung noch einmal zu durchleben.
Seine Geschichte beginnt in Santiago de Chile am Ende der Sechziger Jahre. Der junge Jorge hatte gerade eine Ausbildung bei einem Radiosender gemacht. Er hörte die Nachrichten aus aller Welt – und träumte davon, diese Welt zu entdecken. „Aus Neugier“, wie er sagt. „Für mich war kein Weg zu weit und zu schwer, um das Land zu verlassen und mein Glück zu finden.“ Zunächst ging es nach Spanien, der Sprache wegen, dann weiter per Anhalter Richtung Deutschland. „Ich war müde von der Reise, vom draußen Schlafen und wollte in Mülheim eigentlich nur Rast machen“, erinnert er sich. Diese Rast dauert bis heute. Er hielt sich mit Aushilfsjobs über Wasser: Bettenschieben, Müll beseitigen, Wäsche transportieren. Er lernte seine Frau kennen, gründete eine Familie und baute auch die Soziale Jugend Chiles in Mülheim auf.
„Camino Nuevo“ spielen zur Eröffnung
Das Projekt „Ehemalige Gastarbeiter zu Gast in Schulen“ wird mit fast 15.000 Euro vom Landschaftsverband Rheinland gefördert. Initiiert hatte das Projekt der verstorbene Mülheimer Künstler Klaus Wichmann. Künstler Heiner Schmitz führt das Projekt weiter. Die Ausstellung soll nach der VHS-Präsentation durch Schulen wandern. „Ziel ist es, ein Bewusstsein für die Bedeutung der Gastarbeiter für unser Land in der damaligen Zeit bis heute zu schaffen“, so Schmitz.
Zur Ausstellungseröffnung am Donnerstag, 17. Oktober, 17 Uhr, in der VHS sind alle Zeitzeugen zugegen. Die Gruppe „Camino Nuevo“ mit Ricardo Mendoza, Christian Fausten und Jorge Ecanilla-Rivera begleitet die Veranstaltung musikalisch.
Oft sei der Weg mühsam gewesen, „die Behörden waren keine große Unterstützung“, sagt er. „Ich war 38 Jahre alt, als ich meine Arbeitserlaubnis bekommen habe“, sagt Jorge Escanilla-Rivera. Aber auch darum ging es in dem Projekt: „Den Schülern zu zeigen, dass man Kraft und Ausdauer im Leben braucht, um etwas zu erreichen.“