Mülheim. .

Hildegard Hessler kam vor beinahe 87 Jahren in Groß Gablick zur Welt, das war ein masurisches Dorf mit einem See im damaligen Ostpreußen. Nach fast sieben Jahrzehnten hat die Seniorin nun ihr Dorf, das heute in Polen liegt, besucht. „Das war mein größter Wunsch: Meine alte Heimat noch einmal zu sehen, bevor ich sterbe.“ Jenen Ort, wo schon Mutter und Großmutter geboren wurden.

Frau Hessler könnte viel erzählen aus der schönen Zeit ihrer harmonischen Kindheit zwischen weiten Wäldern und wogenden Kornfeldern. Und aus ihrer Lehrzeit später dann als Köchin auf einem großen Gut bei Königsberg. Und auch mit Erinnerungen aus der schrecklichen Kriegszeit könnte Hildegard Hessler ein Buch füllen. Als sie noch Borries hieß, ein junges Mädchen von gerade 18 war und mit so vielen anderen flüchten musste vor der Roten Armee aus Königsberg. Anfang 1945, im tiefsten Winter bei Eis und Schnee. Nur ihren Pass hatte sie dabei. Aus der Kindheit blieb ein einziges Foto mit der Schwester in der alten Schule. Nur die Mutter, die ihr das Foto gab, hat den Krieg um einige Jahre überlebt.

Geflüchtet aus Königsberg

Hildegard Hessler führte die Flucht nach Thüringen. Sie heiratete dort, floh später weiter in den Westen. Seit 1950 lebt sie mit ihrem Mann in Mülheim, 1952 holten sie ihre Tochter nach. Heute brauchen die Hesslers Hilfe im Alltag. Ania Landsberg, gebürtige Polin, pflegt das Paar seit elf Jahren.

Mit Ania und deren Ehemann flog Hildegard Hessler im März 2010 nach Danzig. „Ich habe“, sagt Hildegard Hessler, „in Polen alle Menschen sehr freundlich erlebt.“ Zurvorkommend und rücksichtsvoll sei sie überall mit ihrem Rollator behandelt worden. Vom Flughafen Danzig ging’s im Mietwagen 300 km weiter nach Groß Gablick, das heute Gawliki Wielkie heißt.

Im Jahr 1943 war sie zum letzten Mal dort, als ihre große Schwester Gertrud Hochzeit hatte. Viel, sehr viel hat sich geändert seither, die Zeit lässt sich nicht zurückdrehen. Einige Orte aus der Kindheit hat Hildegard Hessler aber wiedergefunden. Die Kirche in Widminnen (heute Wydminy), zu der die kleine Hildegard fünf Kilometer zum Konfirmationsunterricht lief, sie steht noch und wurde sogar modernisiert. „Unser Haus gab es aber nicht mehr, nur noch das Nachbarhaus. Es steht leer. Doch unseren alten Brunnen habe ich sofort wiedererkannt.“ Fließendes Wasser (oder elektrisches Licht) hatte man in den 1940ern im Dorf noch nicht.

Back to School

Groß Gablick war ein lebendiger Ort. Alte Postkarten zeigen stolz die Gasthäuser, die Fischerei am See, die Dampfmolkerei. „Früher gab es hier drei Gaststätten, zwei Metzgereien, zwei Kolonialwarengeschäfte, zwei Bäcker“, zählt die 86-Jährige auf. Heute stünden die Post, die Molkerei, die Ziegelei, die Schmiede und viele der Häuser leer. Doch ihre alte Volksschule, wo sie acht Jahre lernte, ist heute ein Gymnasium in einem modernen, großen Gebäude, das die Kinder aus dem ganzen Umkreis besuchen. Die beiden alten Steinmauer-Reste am Haupteingang sind aber noch von der alten Schule, das hat Frau Hessler gleich gesehen.

Als Ania Landsberg in der Schule fragt, bewahrheitet sich der Eindruck, den Frau Hessler seit Beginn ihre Reise vom Land hat: Der Geschichtslehrer Robert Wielicz­ko nimmt sich Zeit, zeigt der betagten Besucherin die Schule, an die sie so viele Erinnerungen hat. Man versteht sich gut und duzt sich gleich, der Lehrer lädt die Besucherin zu sich nach Hause ein. Wie sich herausstellt, lebt die Mutter des Lehrers in dem Haus, in dem einst auch die Tante der kleinen Hildegard wohnte.

Der Kontakt zwischen Gawliki Wielkie und Mülheim besteht bis heute, man schreibt sich, und Robert Wieliczko war mit seiner Frau auch schon zu Besuch an der Ruhr. Lehrer Wieliczko hat eine alte Karte geschickt, die das Dorf am See zeigt und die Dorfstraße: jedes Haus mit Nummer und Namen der Familien, die damals dort lebten. Hildegard Hessler kennt sie noch.