Mülheim. .

„Böse Menschen kennen keine Lieder.“ Nimmt man diese Volksweisheit wörtlich, gibt es in Mülheim fast nur gute Menschen. Denn am Samstag hieß es in der Innenstadt „Mülheim singt“. Und viele, viele Bürger machten mit. Im Evangelischen Krankenhaus, im Forum, in der U-Bahn-Station Stadtmitte und auf dem Synagogenplatz verbreiteten mehrere Chöre der Stadt unüberhörbar harmonischen Wohlklang und gute Laune.

Und vor dem Medienhaus am Synagogenplatz stimmten sogar rund 400 Bürger, auf die die Begeisterung fürs Singen übergesprungen war, trefflich mit ein. Das Tagebuch eines erfolgreichen Morgens.

Gesang im 10. Stock des EKM

10 Uhr im 10. Stock des evangelischen Krankenhauses: Die Tür des Aufzugs klappt auf. Den Besucher empfängt wohliger Chorgesang. Im Foyer stehen dicht gedrängt die 30 Sängerinnen und Sänger des Chors der Musischen Werkstätten der Klinik, intonieren kraftvoll „What a saturday night!“ und „La Cucaracha“. Mitten in der zivilisierten Menschentraube steht Chorleiterin Petra Stahringer an ihrem Klavier, dirigiert lebhaft das Ensemble, begleitet am Klavier zehn Männer und 20 Frauen in weißen T-Shirts und blauen Halstüchern.

Der Einheitslook ist nicht verpflichtend, aber gewollt. Nicht nur der Gesang, auch die Kleidung schafft Identität, das Gefühl von Gemeinschaft, das beim Singen so wichtig ist. Ab und zu bleiben Pfleger, Reinigungskräfte, einzelne Patienten und Besucher stehen, setzen sich auf die Treppe.

„Über den Bergen, mein Liebster“ und „Wachse, wachse, Rosmarin“ erklingen – dann zieht die Karawane weiter, in den 8. Stock, in die Onkologie. Hier bringt der Chor im Treppenhaus noch ein Ständchen.

Schöne Melodien im Forum

Im Sprint geht es weiter, ins Herz des Forums. Hier beginnt um Punkt 10.30 Uhr der reine Frauenchor C(h)orpus Delicti mit seinem Konzert. In der ersten Etage, zwischen „MediMax“ und Eiscafé Venezia, bringen die zehn Damen, in farbige Blusen und Seidenschals gekleidet, einen Strauß schöner Melodien zu Gehör: Das irische Volkslied „Wild Mountain Thyme“, den Gospel „Halleluja, Salvation and Glory“, die Ballade „Forever in my heart“.

Die Regie bei dem früheren Gewerkschaftschor führt freilich ein Mann: Tilmann Wohlleben am Ibach-Flügel, der die Sängerinnen aus Mülheim, Bottrop, Essen und Oberhausen mit kleinen Gesten durch das eingängige Potpourri führt. Im Forum ist das dankbare Publikum schon ein gutes Stück größer. Denn von 10 bis 11 Uhr füllt sich das Einkaufszentrum. Dabei gibt es – außer im Eiscafé – nur wenige Sitze. Dennoch bleiben die allermeisten bis zum Schluss, spenden reichlich Beifall, auch für „I had a dream“ und „Bei mir bist du schön“…

Capri-Fischer im U-Bahnhof

Jetzt spurten: Um 11 Uhr soll der Chor der Musischen Werkstätten schon in der Passage der U-Bahn-Station Stadtmitte an der Leineweberstraße auftreten. Aber gemach: Die Chorleute sind zwar schon da, rund 100 neugierige Zuhörer auch. Doch Gitarrist Oliver Margold, Kontrabassist Dietmar Feldmann, Kantorin und Pianistin Petra Stahringer sind noch auf dem Weg, mit ihren Instrumenten unterm Arm.

Gut Ding will Weile haben. Doch als die fidele Chorleiterin ihr E-Piano angeschlossen hat, Sängerinnen und Sänger auf ihren Holzpodesten stehen, erklingt das erste Lied, „What a saturday Night“, gefolgt von „In meines Vaters Gärtelein“. Mit „Wochenend und Sonnenschein“ und den „Capri-Fischern“ geht es heiter weiter. Ach ja, auch „La Cucaracha“, der Ohrwurm aus Mexiko, ist wieder dabei. Nun ist das Publikum hier unten stark angewachsen, rund 200 Mülheimer hören zu. Alt und Jung, Klein und Groß, wippen dezent mit.

Die Akustik ist besser als gedacht. Leise quietschen die Rolltreppen. Nur ein junger Mann, ausgerechnet, meckert: „Das ist doch eine U-Bahn-Station hier!“ Da schütteln manche den Kopf. Unterirdisch. Sonst haben alle sichtlich Spaß am Gesang unter der Erde, in der runden Zwischenetage mit ihren Säulen und Ziegelsteinen unter blauer Decke. Bisher war alles überdacht, spielte das dürftige Wetter keine Rolle.

Alle singen „Mülheim-Lied“

Und jetzt? Um 12 Uhr, wird’s spannend: Das Offene Singen ist auf einem Platz geplant, nach oben offen. Doch auf dem Synagogenplatz bricht sich just in diesem Moment erstmals die Sonne ihre Bahn durch die dichten Wolken. Alle Chöre treffen ein, ebenso rund 400 Mülheimer. Auch Tilmann Wohlleben ist wieder da, dirigiert jetzt vorm Eingang des Medienhauses hinter seinem E-Piano das Offene Singen: „Glück auf!“, „Land vieler Kulturen“ – und, wie sollte es anders sein? - „La Cucaracha“.

Spätestens beim „Mülheim-Lied“ stimmen alle beseelt mit ein, auch die Passanten, ein großer Volkschor – ohne Gotthilf Fischer. Als dann die Mädchenkantorei und der Jungenchor der Singschule an der Petrikirche mit hellen Stimmen Lieder aus Klassik und Folk, Songs aus Pop und Film intonieren, kennen Jubel und Applaus keine Grenzen mehr. „Gonna rise up singin’“ – die Stimmung ist auf dem Höhepunkt. Und es bleibt trocken. „Entscheidend ist auf dem Platz. . .“