Mülheim. .
Wenn Anna Schulze, was sie häufig tut, in ihrem Wohnzimmersessel sitzt, blickt sie in einen wunderbaren Garten. Hinausgehen an die Luft kann sie nicht mehr, und was sie so denkt, den lieben langen Tag, – man weiß es oft nicht. Aber wenn man sie auf das aufblühende Grün vor ihrer Terrassentür anspricht und den prächtigen Baum inmitten der Wiese bewundert, dann strahlen ihre Augen.
Am 19. April feiert die zierliche Frau, die alle nur Anni nennen, ihren 100. Geburtstag. Die ganze Verwandtschaft ist für den heutigen Nachmittag eingeladen zu Müller-Menden, zwei Töchter hat sie, drei Enkel, drei Urenkelkinder. Ihr Ehemann allerdings verstarb schon 1975.
Bis vor einem Jahr ohne Gehstütze
Bis vor einem Jahr lief Anni Schulze noch ohne Gehstütze, doch ein folgenschwerer Sturz mit Bruchverletzung und langem Krankenhausaufenthalt kostete viel Kraft. „Man kann nichts mehr machen“, sagt sie leise, „höchstens noch ein bisschen Zeitung lesen.“ Und fernsehen. Immerhin bewegt sich Anni Schulze noch in ihrer eigenen Wohnung in Saarn.
Hilde Ullmann, die jüngere ihrer beiden Töchter, lebt seit kurzem nebenan, um die Mutter täglich zu unterstützen und zu verpflegen. Gelegentlich erlebt sie erfreuliche Überraschungen: „Neulich habe ich mich gewundert. Sie hat tatsächlich mitbekommen, dass wir einen neuen Papst haben.“
Heirat im Juli 1936
Hilde Ullmann ist auch die Chronistin des langen Lebens ihrer Mutter, das am 19. April 1913 in Mülheim-Dümpten begann. Anna Nierhaus, wie sie als Mädchen hieß, begann nach der Schule als Fachverkäuferin in einer örtlichen Metzgerei. Sie heiratete im Juli 1936 einen jungen Mann aus Duisburg, Richard Schulze, und zog mit ihm über die Stadtgrenze, nach Neudorf. Beide Töchter kamen während des Krieges zur Welt, es gab Nächte, die sie mit einem Baby und einem Kleinkind im Bunker verbrachte, berichtet Hilde Ullmann: „Und als sie schließlich rauskam mit uns Kindern, da stand das Haus nicht mehr.“
Verwandte nahmen die Ausgebombten auf, zunächst an der holländischen Grenze, anschließend im Sauerland harrten sie bis 1945 aus. Den Neuanfang unternahm die noch komplette Familie in Speldorf, wo der Vater eine große Kohlenhandlung betrieb. Anni Schulze war nicht mehr berufstätig, sondern zuständig für Heim und Kinder und – Bezugsperson für den jeweiligen Familienhund. „Erst ein Rehpinscher, dann ein Boxer. Sie ist immer sehr viel spazieren gegangen und weite Strecken gelaufen.“
Daran ist heute längst nicht mehr zu denken. Aber wenigstens durch den Garten schlendern, würde die Hundertjährige wahrscheinlich gerne...