Mülheim. .

Dass ein Kind unter erschwerten Bedingungen seinen Platz in der Welt einnimmt, geschieht nicht nur in der Weihnachtsgeschichte. Bei Familie Hillebrand sind im Laufe der Zeit ein Sohn und zwei Töchter angekommen, die allesamt andere leibliche Eltern haben. Dennoch sagt Gerald Hillebrand, evangelischer Pfarrer in Broich: „Wir sind eine ganz normale Familie.“

Ihren ältesten Sohn, mittlerweile ein 29-jähriger Mann, adoptierten sie im Lauflernalter. Später hat Dorothea Hillebrand ihm erzählt, wie sie zuvor traurig waren und geweint hätten, weil sie keine eigenen Kinder bekommen können. Und wie sie sich über seine Ankunft gefreut hätten. „Von dieser Geschichte konnte er nicht genug kriegen. Ich musste sie ihm immer wieder erzählen.“

Alle drei sind „echte Wunschkinder“.

Denn: Nicht lange danach nahmen Hillebrands ein fünf Wochen altes Mädchen zu sich, dass eigentlich nur kurzzeitig in Bereitschaftspflege bleiben sollte, aber niemals mehr zurückging und ebenfalls adoptiert wurde.

Bei Lilly, der Jüngsten, war die Situation eigenartig, denn die Übergabe des Babys erfolgte im November 1993 von Frau zu Frau. Die Hillebrands erinnern sich lebhaft, wie sie im Büro des Pflegekinderdienstes, der sie kurzfristig zu sich gebeten hatte, Lillys leibliche Mutter kennenlernten. Die Kleine lag derweil im Kinderwagen, „man sah nur ihre Faust“. Lilly, heute eine junge Frau, war damals neun Monate alt und hat die Szene natürlich nicht mehr vor Augen. Aber das mit der Faust wurde x-mal erzählt und amüsiert sie: „Ich glaube, das war kein Zufall“, meint die 19-Jährige, „sondern sollte bedeuten: Ich bin siegreich. Hier bin ich!“ Die Hillebrands schoben den Kinderwagen aus dem Büro, nahmen die Kleine mit heim. „Wir hatten überhaupt keine Babysachen mehr zu Hause.“ Später brachte die Frau, die Lilly geboren hatte, einige Habseligkeiten vorbei.

Ein Kind als Überforderung

„Sie fühlte sich damit überfordert, ein Kind großzuziehen“, sagt Gerald Hillebrand. „Sie war zu sehr mit sich und ihrer eigenen Situation beschäftigt, ist damit aber sehr offen umgegangen.“ Und sie wollte stets Kontakt halten, was ihr Recht ist und die Hillebrands von Beginn an akzeptiert haben: „Wenn man ein Kind in Pflege nimmt, nimmt man die ganze Familie“, meint der Pfarrer. In diesem Fall passte es außerordentlich gut. „Wir sind befreundet“, berichtet Dorothea Hillebrand, „und waren auch schon gemeinsam im Urlaub.“

Als Lilly kleiner war, fragten andere Kinder gelegentlich, „wie das ist, wenn man zwei Mamas hat. Aber ich konnte das nie beantworten, weil ich es gar nicht anders kenne.“ Über ihre leibliche Mutter, sagt sie allerdings: „Sie war nie wirklich eine Mutter für mich, eher jemand zum Reden. Ich merke, wie ich ihr immer ähnlicher werde. . .“ Es stört sie aber nicht.

Konflikte mit der leiblichen Mutter blieben aus

Lilly hat zwar den Nachnamen Hillebrand auf eigenen Wunsch angenommen, ist aber bis heute Pflegekind geblieben, nicht adoptiert, so dass ihre leibliche Mutter das Sorgerecht behielt. Das bedeutet: Sie entscheidet in allen wichtigen Fragen zumindest mit. Was zu ernsthaften Konflikten führen kann, die in diesem Fall aber allen erspart blieben. Beispiel weiterführende Schule: Welche sollte Lilly besuchen? „Wir haben es gemeinsam mit der leiblichen Mutter entschieden“, berichtet Dorothea Hillebrand. „Sie hat auch häufig gesagt: ,Ihr macht das schon.’" So glatt geht es nicht immer: „Dies ist ein Glücksfall“, sagt auch Gerald Hillebrand.

Lilly besucht das Gymnasium Broich, möchte im Frühjahr ihr Abitur machen und danach – möglicherweise – ein Freiwilliges Soziales Jahr absolvieren. „Eigentlich wollte ich nach Israel gehen, das interessiert mich wirklich, aber momentan zweifle ich. . .“ Wegen der kritischen Lage im Land. Aber so oder so: Die beiden älteren Geschwister haben das Pfarrhaus schon verlassen, und auch Lilly ist mit ihren 19 Jahren auf dem Sprung.

Kinder sind Gäste 

Die Eltern sehen dem, wie sie sagen, entspannt entgegen, weil die Kinder (es gibt auch bereits zwei Enkelchen) oft und gerne zu Besuch kommen. Dorothea Hillebrand zitiert zustimmend den Titel eines bekannten Ratgeberbuches: „Kinder sind Gäste, die nach dem Weg fragen“. Und zwar nicht nur Pflegekinder. Alle.

„Wir suchen dringend Pflegefamilien“, sagt Franz Mantau vom Kommunalen Sozialen Dienst (KSD), der in Mülheim für die Vermittlung zuständig ist. Derzeit würden gut 100 Familien betreut, in denen insgesamt etwa 130 Pflegekinder leben. „Im Augenblick sind alle versorgt, falls aber weitere Kinder in Obhut genommen werden, könnten wir nur noch zwei oder drei mit Doppelbelegungen unterbringen. Danach nicht mehr.“

Nicht mehr ausreichend Pflegefamilien

Nach Mantaus langjähriger Erfahrung habe es früher mehr Bewerber gegeben, eine Warteliste potentieller Pflegeeltern. Dass es weniger wurden, „scheint eine gesellschaftliche Tendenz zu sein. In Ballungsgebieten sieht es überall so aus.“ Ein Pflegekind aufzunehmen, sei „eine sehr anspruchsvolle Aufgabe. Das Kind kommt mit einem großen Rucksack in die Familie, in dem viele Überraschungen stecken. . .“

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Für ihr Engagement erhalten Eltern in Mülheim ein Pflegegeld, das je nach Alter des Kindes zwischen 470 und 680 Euro im Monat liegt, sowie einen Erziehungsbeitrag von etwa 230 Euro. Das Kindergeld wird damit allerdings verrechnet. Der KSD betreut Pflegefamilien, bis der Junge oder das Mädchen volljährig ist, auf Antrag kann die Unterstützung bis zum 21. Lebensjahr verlängert werden.

Eignungstest für Pflegeeltern

Für alle, die sich vorstellen könnnen, ein Pflegekind aufzunehmen, bietet die Evangelische Familienbildungsstätte am Freitag, 25. Januar 2013, einen unverbindlichen Informationsnachmittag an. Unter dem Titel „Familie Plus“ werden die Voraussetzungen (wer ist als Pflegeeltern geeignet?) und verschiedenen Pflegeverhältnisse ausführlich vorgestellt.

Außerdem sind „lebendige Beispiele“ anwesend, darunter Familie Hillebrand, die von ihren persönlichen Erfahrungen erzählen und für Fragen zur Verfügung stehen. Damit die Erwachsenen bei Kaffee und Kuchen in Ruhe Gespräche führen können, wird auch eine Kinderbetreuung angeboten.