Essen. Sie sind rund um die Uhr im Einsatz und machen einen höchst verantwortungsvollen Job: Bereitschaftspflege-Familien nehmen vorübergehend Kinder auf, die von den leiblichen Eltern vernachlässigt oder misshandelt worden sind. Die Stadt Essen entlohnt sie für diese Arbeit deutlich schlechter als andere Kommunen.

Sie werden dringend gesucht, müssen jederzeit einsatzbereit sein und haben eine verantwortungsvolle Aufgabe. Trotzdem werden Bereitschaftspflegeeltern in Essen deutlich schlechter bezahlt als in anderen Kommunen. Seit einem Jahr bemühen sich einige von ihnen um eine bessere Vergütung – bislang vergeblich.

677 Euro im Monat erhält Heike Rajca für die Betreuung des 20 Monate alten Tim*, der seinen leiblichen Eltern entzogen wurde. Der Großteil des Geldes (458 Euro) ist für den Unterhalt des Kindes gedacht, mit 219 Euro sollen die „Kosten der Erziehung“ gedeckt werden. Die sind bei Tim nicht unerheblich, er leidet unter Kleinwuchs und einem fetalen Alkoholsyndrom. Die Sucht seiner Mutter hat ihn schon vor der Geburt geschädigt, er wird behindert bleiben.

„Das Schöne sind die Fortschritte der Kinder“

Während sich seine leiblichen Eltern nicht um die Entwicklung des Jungen gekümmert haben, setzt Heike Rajca alles daran, ihn zu fördern. „Mit fast zwei Jahren kann er noch nicht kauen. Damit er es lernt, machen wir eine Therapie“, erklärt sie. Die Fähigkeit zu kauen sei auch eine Voraussetzung fürs Sprechen: Tim lernt jetzt die ersten Laute.

Seit er im August 2011 zu ihr kam, hat Heike Rajca regelmäßig mit Tim Termine bei Ärzten und Therapeuten wahrgenommen. Der Erfolg ist sichtbar: Aus dem verschüchterten Kind, das ausdauernd schrie und keinen Becher halten konnte, ist ein zugewandter Junge geworden, seine Motorik hat sich enorm verbessert. „Das ist das Schöne an dieser Aufgabe, wenn man die Fortschritte der Kinder sieht“, sagt die Bereitschaftspflegemutter.

"Was, wenn wir streiken?"

Trotzdem wünschte sie sich, dass ihr Einsatz nicht nur mit einem Kinderlächeln belohnt würde. „Ich kann für all die Fahrerei ja nicht mal Benzinkosten abrechnen. Manche Nachbarstadt bezahlt mehr.“ Das Zwei- bis Dreifache des Essener Erziehungsbeitrages sei üblich, bestätigt der Landschaftsverband Rheinland. So werden etwa in Mülheim 657 Euro statt 219 Euro gezahlt. Andrea Rumswinkel vom Mülheimer Sozialamt: „Damit wollen wir die für uns sehr wertvolle Arbeit honorieren.“

Heike Rajca zweifelt nicht, dass auch das für sie zuständige Essener Jugendamt ihre Arbeit würdigt. Schon im April 2011 habe ihr die zuständige Kollegin schriftlich bestätigt, „dass in den umliegenden Kommunen ein deutlich höherer Erziehungsbeitrag gezahlt wird“. Sie werde sich dafür einsetzen, dass Essen das 2,5-fache des jetzigen Satzes zahle. „Nur leider hatte sie keinen Erfolg“, bedauert Rajca. „Was würde die Stadt bloß machen, wenn wir streiken?“

Heimunterbringung wäre deutlich teurer als eine Bereitschaftspflegemutter 

Die Frage ist berechtigt: Längst ist das Essener Jugendamt mit seinen stadtweit 30 Bereitschaftspflegefamilien am Limit. Schon jetzt müssen Kinder in Nachbarstädte vermittelt werden, schon jetzt werden Pflegemütter bekniet, ein zweites, drittes Kind zu betreuen. So nahm etwa Beate Orlowski vor einigen Monaten zwei kleine Schwestern (2 und 3) auf, obwohl sie bereits ein Bereitschaftspflegekind hatte. „Der Kleine lebt schon seit anderthalb Jahren bei uns.“ Dabei hat Beate Orlwoski schon drei eigene Kinder (9, 13, 16). Dabei ist die Bereitschaftspflege eigentlich als kurzzeitige Betreuung für maximal drei Monate gedacht.

Beate Orlowski ist mit ganzem Herzen Pflegemutter, aber sie findet, ihr 24-Stunden-Einsatz werde nicht angemessen entlohnt. Sozialdezernent Peter Renzel verspricht auf Anfrage, das bis zum Sommer prüfen zu lassen. „Wir müssen alle Anstrengungen unternehmen, Bereitschaftspflegeeltern in ihrer wichtigen Aufgabe zu stärken.“

Belastungen für die ganze Familie

Bislang scheint das nicht immer zu gelingen. So ließ sich Anja Schulz* vor vier Monaten überreden, ein Baby aufzunehmen, obwohl sie den Job als Bereitschaftspflegemutter aufgegeben hatte. Am ersten Tag habe der Junge von 14 bis 22 Uhr durchgeschrien: Das Baby einer Drogensüchtigen durchlebte einen Entzug. So etwas belaste auch das Leben der restlichen Familie. „Und dann bekommt man kein Geld für einen Kinderwagen, sondern ein Uralt-Modell ohne Federung vom Jugendamt.“ Am Ende kaufte sie selbst für 350 Euro einen Kinderwagen.

Wenn man solche Frauen als Bereitschaftspflegemütter verliert, sieht es finster aus. Schließlich soll eine Heimunterbringung kleiner Kinder unter allen Umständen vermieden werden. Nebenbei: Mit 3000 Euro monatlich wäre sie auch erheblich teurer.

(* Namen geändert)

Die Bereitschaftspflegefamilien

Muss ein Kind aus seiner Familie genommen werden, weil es missbraucht, misshandelt oder vernachlässigt wird, soll es umgehend zu einer Bereitschaftspflegefamilie kommen.Im Idealfall sollte diese das Kind in einem kurzen Zeitraum von bis zu drei Monaten betreuen: Bis geklärt ist, ob das Kind in seine Herkunftsfamilie zurückkehren kann, weil die Krisensituation dort überwunden ist. Wenn das Wohl des Kindes bei den leiblichen Eltern weiter als gefährdet gilt, kann es in eine Dauerpflegefamilie vermittelt werden, die es annimmt und aufzieht.

Für Bereitschaftspflegefamilien heißt das, dass sie in der Lage sein müssen, spontan ein Kind aufzunehmen, wenn das Jugendamt sie fragt – und dass sie immer wieder mit dem Abschied von Kindern klarkommen müssen. Die Jungen und Mädchen bringen in der Regel schwere Entwicklungsverzögerungen, Ängste und Traumata mit. Die Bereitschaftsfamilien sind für sie ein Ort zum Durchatmen: Oft erleben sie hier zum ersten Mal Nestwärme und Familienleben. Viele holen dadurch schnell auf.