Der schwarze Mercedes 170 V setzt sich langsam in Bewegung und verschwindet fast im Zeitlupentempo aus meinem Blickfeld. Herr Diekmann, der bei uns nebenan in diesem feinen Haus in der Charlottenstraße 15 wohnt, ist Taxiunternehmer und wird – wie üblich – mit maximal 40 km/h zu einem Kunden fahren.
40 Jahre unfallfrei
Das tut er schon 40 Jahre unfallfrei. Ich habe alles aus dem Fenster heraus beobachtet und dabei mit Freude festgestellt, dass es ein schöner, sonniger Ferientag werden wird. Die Ruhr liegt in Blickweite, gleich bin ich auf dem Weg dorthin.
Die 50er: Ein einziges Abenteuer
Auf meinem Weg muss ich jetzt, Mitte der 1950er Jahre, kaum auf den Straßenverkehr achten. Ich überquere die Friedrich-Ebert-Straße und bin gleich auf der Ruhrstraße, die als Verbindungsstraße parallel zu den Ruhranlagen zur Schlossbrücke führt. Nur zweispurig und beschaulich läuft dort der Verkehr entlang einiger wunderschöner Villen, die den Bombenkrieg unversehrt überstanden haben. Auf dem Weg zur Ruhr liegt auch die Ankerstraße. Hier gehe ich wie üblich erst in den Pferdestall, ich will die Pferde tätscheln. Seit einiger Zeit gehe ich mit gemischten Gefühlen da hin. Ich weiß nun, dass die Pferde dort nicht ihr Gnadenbrot bekommen, sondern bald als Sauerbraten oder Fleischwurst in der nahen Pferdemetzgerei landen. Ich verdränge die Gedanken daran und gehe weiter in die Ruhrstraße, in unseren Park. Dort klettere ich über die Begrenzungsmauer, die mit ihren Ecktürmchen wie eine Schlossmauer wirkt. Abgefallene Steine geben einen guten Tritt für den Aufstieg, schon bin ich im Park. Weit ab von allen Menschen, die nicht zu unserer Clique gehören. Uns Jungs gehört dieser Dschungelspielplatz, der nur durch den Bolzplatz ein Stück freie Fläche hat. Niemand stört uns in diesem einst hochherrschaftlichen Park, dem das Villengebäude fehlt, das ehemals zum Rathausmarkt hin ausgerichtet war; zerstört durch den Krieg.
Mülheim(er) an der Ruhr
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Fahrradwache am Rathausmarkt
Die Fahrradwache am Rathausmarkt hat sich anstelle dessen etabliert und sich durch einen Holzzaun vom Park abgegrenzt, sehr zu unserer Freude. So leben wir hier unser abenteuerliches Leben. Auf die Schüler der Handelsschule Max Schwenzer in der Villa nebenan müssen wir aber Rücksicht nehmen. Leider landet dort schon mal unser Gummiball als Querschläger.
In den 60ern: Der Verkehr nimmt zu
Es sind einige Jahre vergangen. Der Pferdemetzger hat immer weniger zu tun. Zuhause hat Mutter das Fleisch aus Prinzip niemals auf den Tisch gebracht, die Hausmannskost mit Eintöpfen war meist fleischlos.
Jetzt zu Beginn der 1960er Jahre kursieren Gerüchte rund um unser Viertel. Der Straßenverkehr nimmt stark zu. Es wird eine Brücke geplant und unsere Straße wird dem Brückenbau wohl weichen müssen. Das Schlimmste passiert und eine monströs große Brücke, mit Rampen, die wie Polypen in alle Richtungen wuchern, zerstört alle alte Bausubstanz in unserer Straße und unserem unmittelbaren Umfeld.
2012: Nur noch Autos und Brachland
Gedankenverloren stehe ich im Jahr 2012 am Fuß dieser Brücke und schaue auf eine riesige Kreuzung mit Brachflächen. Der Abriss der Rampen hat zwar die Ästhetik gemildert und Platz für 280 neue Parkplätze gemacht, aber die Ankerstraße mit ihren Anwesen zur Ruhrseite, dem Pferdestall, der Leinpfad am Fluss, die Hauptverwaltung der Friedrich Wilhelms-Hütte – sie sind verschwunden. Unsere Straße, die untere Charlottenstraße, schon um 1822 im Stadtplan als „Zwiebelstraße“ erwähnt, ist nicht mehr vorhanden, wird nur noch als Rheinische Straße erwähnt. Tosender Verkehr durchflutet auch unsere frühere Wohnküche. Die Kindheits- und Jugenderinnerungen sind nur noch mit großer Fantasie vorstellbar, aber trotzdem nicht aus dem Kopf zu verdrängen.
Hintergrund:
Der 1943 in Mülheim geborene Herbert Leibold wuchs im unteren Teil der Charlottenstraße auf. Der Weg von dort zur Ruhr war kurz, ebenso zur Hauptverwaltung der Friedrich Wilhelms-Hütte an der Friedrich-Ebert-Straße, wo Leibold von 1967 bis 1976 als Gruppenleiter Verkauf Stahlguss Export arbeitete. Sein Elternhaus musste um 1970 dem Bau der Nordbrücke weichen. Herbert Leibold wohnt nach wie vor in Mülheim. Zwischenzeitlich hat der gelernte Industriekaufmann viel Zeit im Ausland verbracht: Von 1964 bis 1967 lebte er in Südafrika, später führten ihn Dienstreisen in etliche europäische Länder. Leibold, der zwei erwachsene Töchter hat, gehört dem Mülheimer Geschichtsverein an.
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