Mülheim. .

„Bauer sucht Frau“ – oder was? Wer beim ironisch gemeinten Wort „Dorforgien“ sexuelle Ausschweifungen von Bauern und Bäuerinnen erwartet hatte, wurde am Sonnabend auf dem Müga-Gelände am Ringlokschuppen eines Besseren belehrt.

Kartoffel- und Möhrenschälerinnen, ein Spielmannszug, ein Sportverein, eine Fokloregruppe, ein Gospelchor, eine Wahrsagerin, dazu jede Menge Jazz- und Rockmusiker, Tänzer und Schauspieler bevölkerten bei heiter bis wolkigem Wetter die grüne Szene, agierten rund um die Freiluftarena. Den rund 400 Besuchern gefiel das außergewöhnliche Kultur-Fest – zumal der Eintritt gratis war.

Wenn man die Organisatoren der Produktionsgemeinschaft „Ruhrplus“ beim Wort nimmt, war das etwa dreistündige Gesamtkunstwerk eine „Orgie“, aber eine rein kulturelle, selbst wenn viele Künstler nicht mit einem Schuss Erotik sparten.

Ausnahmslos unterhaltsam und amüsant

Aus Mülheim wirkten an dem bunten Open-Air-Spektakel z.B. die anatolischen Tänzer von Afir, der Chor Ruhrsirenen oder der Rad-Club Sturmvogel 1998 mit. Dazu gesellten sich die Mädchen der sportlichen Cheer-Academy Bochum und der Fanfaren Corps 1974 Dortmund Wickede, der den Zuhörern den Marsch blies. Alle Darbietungen waren ausnahmslos unterhaltsam und amüsant, anregend und interessant.

Auch die Bauchtänzerinnen, die im Park ihre Hüften schwangen, die Wahrsagerin, die esoterisch vor und in ihrem Camping-Wagen die Zukunft aus den Händen der Besucher las und esoterisch über den Sinn des Lebens schwadronierte. Oder die drei magischen, schwarzen Hexen, die sich im Sandkasten auf dem Spielplatz austobten, die wandernde Jazz-Combo, die an vielen Orten im Park spontane Platzkonzerte gab, kakophonisch, polyphonisch, auch harmonisch.

Gemeinsames Kochen zu musikalischer Begleitung 

Professionell auch das weiß-gekleidete Tanzpaar, das beschwingt mit Rock’n’Roll-Tänzen über das weitläufige Gelände wirbelte. Oder die dralle Schauspielerin im Abendkleid, die sich lustvoll in einem der Park-Brunnen suhlte. Und der romantische Geiger mit Muse, der einsame Cellist ohne Muse. Nicht zu vergessen, die fleißigen Gemüseschälerinnen, die mitten in der Arena eine köstliche Gemüsesuppe zubereiteten – begleitet von einem Schlagzeuger.

Immer und überall konnten die überraschten Besucher etwas erleben, gleichzeitig, spontan, oft wie zufällig, dennoch geplant. Der abwechslungsreiche Abend war alles andere als langweilig. Schließlich endete alles wie es begann: nicht im Chaos, sondern im Konzert des Großklang-Orchesters „The Dorf“ - wegen der unsteten Witterung im Ringlokschuppen. Sie alle kochten unter der künstlerischen Leitung von Rolf Dennemann in ihrem „Dorf“ einen „Kessel Buntes“.

Leider kein Kontext

Schade nur, dass die samt und sonders gelungenen Darbietungen oft genug zusammenhanglos, beliebig nebeneinander standen. Ein Kontext war kaum erkennbar. Geboten wurden kulturelle Versatzstücke, ein Mosaik, ein Puzzle, ein künstlerisches Panoptikum, wie auf einem Jahrmarkt, geeignet dazu, schlichte Gemüter zu verwirren.

Der ambitioniert-intellektuelle Anspruch der „Dorforgien“, sich mit dem „Spannungsverhältnis von Metropolen(t)räumen und kleinräumig/lokalen Dorfstrukturen“ künstlerisch auseinanderzusetzen“ wurde kaum eingelöst. Wo war hier das Landleben, wo das Stadtleben? Jedenfalls hat es kein Besucher gemerkt. Trotz alledem: ein interessantes, interdisziplinäres Kultur-Experiment, jenseits aller ausgetretenen Pfade. An der Struktur kann man ja noch arbeiten…

In Mülheim hatte die Reihe mit „Dorforgien“ Premiere. Weitere kulturelle Feste dieser Art mit Profis und lokalen Akteuren sollen in einer Kleingartenanlage in Dortmund und in den Flottmann-Hallen in Herne und in Essen folgen.

Veranstalterin ist die „Produktionsgemeinschaft Ruhr+“ – ein Netzwerk der freien Szene im Ruhrgebiet, das sich anlässlich der Kulturhauptstadt 2010 gegründet hat. Projektträger ist der Dortmunder Verein „artsenico“.