Mülheim. .

Rund 3500 Menschen, die im engsten Zirkel um die Bombe leben oder arbeiten, wurden gestern früh evakuiert. Niemand durfte mehr im Umkreis von 500 Metern um die Fundstelle bleiben. Die allermeisten kamen bei Verwandten oder Freunden unter, die 120 Bewohner des städtischen Seniorenheims Auf dem Bruch, darunter 19 bettlägerige Leute, wurden auf die Häuser Gracht bzw. Kuhlendahl verteilt.

So war es am offiziellen Betreuungsplatz, in der Mensa der Gustav-Heinemann-Schule, recht leer. „Wir können hier locker weit über 500 Leute mit Sitzplätzen versorgen“, erklärte Michael Thommessen, einer von ca. 60 ehrenamtlichen Rot-Kreuz-Helfern, die sich vor allem der Senioren annahmen. In der Schulkantine wurden aber letztlich nur 63 Leute gezählt, die – bescheiden versorgt mit Kaffee und Wasser, später Keksen – an Gruppentischen auf die Entschärfung warteten. Im Freizeitraum eine Etage höher hatten vier Sozialpädagoginnen aus dem Gesamtschul-Team einen ausgesprochen ruhigen Morgen: kaum ein halbes Dutzend Kinder war da.

"Ich fange gleich an zu weinen."

Überwiegend grauhaarige Bürger hatten sich zur Boverstraße bringen lassen, viele mit Gehhilfen. Die zehn Metallbetten, die man in einem Nebenraum hinter Sichtschutz aufgestellt hatte, blieben leer. Für den Ernstfall gerüstet war die evangelische Notfallseelsorge – und gleich mit acht Geistlichen in schweren violetten Westen erschienen. Warum so viele? „Weil Hunderte von Menschen hierher kommen könnten“, antwortete Pfarrer Michael Manz, darunter viele, die vielleicht aus aktuellem Anlass von quälenden Kriegserinnerungen heimgesucht werden.

Wie Hans und Liane Albrecht, ein Ehepaar von 81 bzw. 78 Jahren. „Wir haben die Kriegszeit voll mitgemacht“, sagen beide, die auf der Straße Eigene Scholle wohnen, vielleicht 250 Meter von der Fliegerbombe entfernt. Die alte Dame meint, mit feuchten Augen: „Mich braucht man nicht danach zu fragen. Ich fange gleich an zu weinen.“

Angst, dass etwas passieren könnte

Tränen fließen auch bei der zweijährigen Leyla, aber nur aus Müdigkeit, hängend auf Mamas Schoß. Mit insgesamt drei kleinen Kindern und dem Linienbus ist Familie Krasnici in aller Frühe zum Evakuierungsraum gekommen. Sulltan, der Vater, wirkt nervös: „Ich habe natürlich Angst: Wenn etwas passieren sollte, wo sollen wir hingehen? Wo sollen wir schlafen?“ Es scheinen nicht viele im Raum zu sein, die diese Sorge des jungen Mannes teilen.

Der Sprengmeister, der gerade in rund 1200 Metern Entfernung seine verantwortungsvolle Arbeit aufgenommen hat, genießt im Evakuierungsraum großes Vertrauen. „Hut ab, was diese Leute sich trauen“, sagt Detlef Schulze. Der Rollstuhlfahrer wollte eigentlich die amtliche Anordnung ignorieren: „Ich habe erst gesagt: An meinem Geburtstag werde ich nicht die Wohnung verlassen.“ Dann tat er es doch, plante eine kleine Feier am Abend. Zu Hause in der Schaaphausstraße.

"Alles war gut organisiert."

Um kurz vor halb zwölf verkündete Notfallseelsorger Guido Möller die erlösende Nachricht: „Die Bombe ist entschärft.“ Aufbruchstimmung verbreitete sich, während DRK-Männer riesige Töpfe mit heißen Würstchen heranwuchteten.

Gegen halb zwei sei die Mensa leer gewesen, berichtete Schulleiterin Christa van Berend, und lobte: „Alles war gut organisiert.“ Gegen halb vier waren laut Stadtsprecher Volker Wiebels auch alle Bewohner des Seniorenheimes Auf dem Bruch wieder in ihren vertrauten Zimmern. Ein anstrengender Tag glitt in alltägliche Bahnen.