Mülheim.
Die kleinen Knirpse, die am Samstag unbekümmert auf dem Gelände des evangelischen Kindergartens an der Reichstraße 52 spielten, werden am wenigsten begriffen haben, was am Wochenende vor Ort gefeiert wurde. 100 Jahre gibt es die Einrichtung in Broich schon; 100 Jahre voller Geschichte, mit Änderungen der Kinderzahlen, der Konzepte, der Ausstattung. 100 Jahre, die auch den Zeitgeist der Gesellschaft widerspiegeln.
So recht schien Leiterin Erika Strippchen am Samstag auch nicht fassen zu können, was da vor sich ging. „Große“ Kinder vergangener Jahrgänge, Erwachsene und Senioren kommen zu Besuch, bringen ihre eigenen Kinder und Enkel mit, viele von denen gehen mittlerweile auch in die geschichtsträchtige Kita. Es wird gerätselt, ob man sich gegenseitig erkennt. Die Freude ist groß, wenn es klappt.
Neue Plätze für Betreuung von unter Dreijährigen
Bereits seit 1978 wirkt Strippchen vor Ort, hat den 70., 80. und 90. Geburtstag erlebt, aber die 100 ist dann schon etwas Besonderes. „Für mich ist das nicht nur ein Job“, sagt die 55-Jährige stolz. Sie tut sich schwer, zu beschreiben, was dieses Haus ausmacht, und startet einen Versuch: „Es ist immer das Herz dabei“, sagt sie. Viele schicken ihre Kinder hierher, diese wiederum die nächste Generation. Man pflege Rituale, die zur Tradition geworden sind, etwa das Plätzchenbacken vor Weihnachten. Im nächsten Jahr beschreitet der Kindergarten weiteres Neuland, dann werden sowohl in der Luftballon- als auch in der Igel-Gruppe jeweils vier Plätze für die Betreuung von unter Dreijährigen geschaffen. Auch die aktuelle Zahl von 43 Mädchen und Jungen, die einen Teil ihrer Kindheit dort mit schönen Erinnerungen füllen, sind ein Kontrast zu den Anfangszeiten der Einrichtung:
Zur Eröffnung 1912 wurden 100 Kinder angemeldet, um in zwei Gruppen, getrennt nach Alter, zu spielen. Ab 1914 stellte die Gemeinde das Haus als Lazarett zur Verfügung, 1916 wurde es unter der Leitung der Diakonisse Amalie Witting wiedereröffnet – sie führte die Einrichtung 36 Jahre lang.
Ärmchen schränken, Finger auf den Mund
Die „Kinderbewahranstalt“ legte Wert auf Ruhe und Ordnung. Die Anweisung „Ärmchen schränken, Finger auf den Mund“ gehörte nicht nur bei der ersten Leiterin, sondern auch bei ihren Nachfolgerinnen zum Alltag.
Daran erinnert sich Irmtrud Schäckermann (69) noch, die lachend nachäfft, wie zu ihrer Kindergartenzeit Schwester Amalie immer den Finger auf den Mund legte, um die Kleinen zu ermahnen.
Unter dem Motto „Weiset meine Kinder, das Werk meiner Hände, zu mir“ sollte dem Nachwuchs nicht nur frohes Spiel, sondern auch „der Weg zum Herrn gezeigt werden“, wie zur Eröffnung die konfessionelle Ausrichtung betont wurde. Kinder hatten ein Taschentuch und ein Frühstück in einer Tasche mitzubringen, besagte die Satzung von 1926.
Tische und Stühlchen als Mangelware
Der Zweite Weltkrieg unterbrach den Betrieb, bereits wenige Wochen nach der Stunde Null strebte man die Wiedereröffnung an und bat die alliierte Militärregierung um Erlaubnis. 1948 brachten 150 bis 180 Kinder die Einrichtung an ihre Grenzen. Tische und Stühlchen waren Mangelware, wie ein Antrag an den Landessozialministern zeigt. 1960 erfolgte ein Ausbau, 75 Kinder konnten in Folge die Kita besuchen, drei Gruppenräumen standen zur Verfügung.
Dem Boom des Wirtschaftswunders folgend entstand ein weiterer Gemeindekindergarten an der Calvinstraße. Im Jubiläumsjahr wurde auch noch einmal investiert: in neue Sanitärbereiche und in eine renovierte, größere Küche.