Mülheim. . Wer sind die Mülheimer Piraten, was machen sie - und warum sind sie eigentlich so erfolgreich?
Angenommen, am Sonntag gehen so viele Mülheimer wählen wie sonst auch und angenommen, sie wählten so ähnlich wie die Nordlichter am vergangenen Sonntag - dann bekäme die Piratenpartei etwa 7000 Stimmen aus Mülheim. 7000, das ist die Zahl, die die FDP im Rathaus hält und die bei der Landtagswahl 2010 Barbara Steffens von den Grünen für sich verbuchen konnte. 7000, das ist nicht wirklich viel und nicht wirklich wenig. Aber wer sind eigentlich die Piraten, die auf diese Beute hoffen dürfen? Und: warum?
Zunächst sind die Piraten: wenige. 40 Mitglieder zählt das Mülheimer Sprengel, zu Stammtischen in Franky’s Bar am Ruhrufer kommen so um die fünf, sechs, normalerweise. Jetzt, vor der Wahl, sind es einige mehr. 16 waren es am 24. April, zwölf am letzten Dienstag, rund ein Drittel davon sind Neulinge, Interessierte.
Interessiert woran?
Der junge Mann, der seit Anfang April fast immer kommt, gibt darauf eine verblüffende Antwort. Seinen Namen mag er nicht in der Zeitung lesen, noch nicht, wegen seines Arbeitgebers. Sein Beruf weist den 34-Jährigen als seriös und in der digitalen Welt heimisch aus, er spricht wenig und leise und was er sagt, ist auf Ergebnisse ausgerichtet. Ob das alles effektiv sei, was die Piraten trieben, will er einmal wissen; eine Frage, für die ein Verwaltungspirat, so heißen die Funktionäre der Partei, für einen Moment den Kopf von seinem iPad hebt. „Tja, mein Lieber, was ist schon effektiv?“
Trotzdem, der 34-Jährige ist inzwischen beigetreten, und fragt man ihn, warum, also worauf sein Interesse gründet, dann sagt er langsam: „Die anderen Parteien haben immer auf alles eine Antwort. Die reden immer und zu allem. Das ist abschreckend.“
Den Tenor teilen viele, die da kommen, es sind nicht nur junge Leute. Studenten sind dabei, zwei Angestellte von Stadtverwaltungen, einige Selbstständige, ein Mitarbeiter der Deutschen Bahn, einer vom RWE. Eine Frau hat von „Mehr Demokratie“ den Weg zu den Piraten gefunden und als sie gefragt wird, warum, da sagt sie: „Die MBI ist ja gescheitert.“
Festgefügtes in Frage stellen
Zwei andere haben mehrere Jahre in der SPD und in Gewerkschaften hinter sich, in Vereinigungen also, die ebenfalls immer alles wissen und in denen Geschlossenheit ein Wert an sich ist. Zumindest solange, bis man, aus welchen Gründen auch immer, geschlossen in entgegengesetzte Richtung läuft, siehe Atomausstieg, siehe Euro-Rettung, siehe Mindestlohn.
Das Befremden über soviel wandelbare Selbstgewissheit irritiert viele, quer über alle Parteibindungen, wie die Wählerwanderungen zeigen. Nicht alle Irritierten, eher die wenigsten, landen deswegen bei den Piraten. Nirgendwo anders aber ist es derart wohlige Kultur geworden, scheinbar Festgefügtes leichthin in Frage zu stellen. Als sich während des Stammtischs jemand beschwert, dass in der Runde geraucht wird, wo doch inzwischen nirgends mehr geraucht wird, da hebt der Verwaltungspirat erneut und sehr erstaunt den Kopf: „Piraten“, sagt er schlicht, „sind freiheitlich“.
Keine eilfertigen Antworten
Diese Sehnsucht hat letztlich auch den 34-jährigen Jungmanager zum Eintritt bewogen. Es ist die Freiheit, ernst genommen zu werden. Wer Protokolle anderer Parteien nachliest über Sitzungen und Parteitage, findet Beschlüsse und Erklärungen. Bei den Piraten heißt es schon mal: „Wolfgang hat das Thema Fracking angeschnitten.“ Es folgt ein Link zu Wikipedia. Und über die letzte Ratssitzung, die einige Piraten besucht haben, und die sie „Hauptratssitzung“ nennen, steht da, man habe erlebt, wie momentan Mülheimer Politik funktioniert und „großes Interesse daran etwas zu ändern“. Nächstes Thema.
Es ist mithin nicht etwa so, dass die Piraten so viel Zuspruch finden, obwohl sie keine eilfertigen Antworten geben. Sie finden den Zuspruch, weil sie keine eilfertigen Antworten geben. Damit läuft die Larmoyanz und Kritik der etablierten Parteien an der Inhaltslosigkeit der Piraten ins Leere und jede Talkshow, in der sich die Altvorderen freuen, einen Piratenvertreter als standpunktloses Flatterwesen entlarvt zu haben, nährt die Quelle, aus der die Wahlprozente der Newcomer sprudeln.
„Der macht schon viel selbst“
So lange, bis die Piraten anfangen, die Freiheit, alles in Frage zu stellen, in Frage stellen. Es gibt einige Parteivertreter, denen dieser Pragmatismus innewohnt; der Mülheimer Spitzenkandidat Carsten Trojahn ist so einer, ein 32-jähriger Informatiker, in dessen schnoddrigen Sätzen viele Ausrufezeichen mitschwingen. Kritik daran erlauben sich die Piraten auch schon. Auf ihre Art.
„Der Carsten“, sagt einer, „der macht schon sehr viel selbst.“