Mülheim..
Hinterhof-Idylle pur: Durch einen mit Efeu umrankten Torbogen gelangt man zu dem Atelier von Jochen Stenschke. Und staunt nicht schlecht beim Anblick des alten Gemäuers mitten in Broich: In einer ehemaligen Kornbrennerei hat der Neu-Mülheimer seine Arbeitsräume.
Als der Künstler das denkmalgeschützte Schätzchen erstmals sah, war für ihn klar – meins. „Da hab’ ich erstmal die Spinnweben beseitigt, aufgeräumt, alles gestrichen und Licht gelegt.“ Nach viel Arbeit hat er nun ein kleines, aber feines Atelier über drei Etagen. Mülheim ist quasi sein zweites Standbein. Der Wahlberliner mit „Noch-Wohnsitz“ in der Hauptstadt hat ein großes Atelier und „mein Hauptwerk“ im Deutschen Architektur-Zentrum, wo viele kreative Köpfe unter einem Dach leben.
Das Licht der Welt erblickte er allerdings im Ruhrgebiet, in Marl. „Das kenne ich aber gar nicht, da bin ich nur geboren worden.“ Aus familiären Gründen zog es den Künstler nach Mülheim. Die beiden Standorte sind ihm wichtig, „weil sich in der Kunst ja doch vieles über Berlin definiert“, sagt der 52-Jährige. Untermauert wird das durch eine Ausstellung in Kiel, wo Stenschke aktuell mit Arbeiten dabei ist. Titel der Schau: „Berlin zeichnet.“ Im Herbst zeigt seine Stuttgarter Galerie Harthan eine Auswahl seiner Arbeiten. Daneben wird Stenschke von Galeristen in Hannover, Zürich und Wien vertreten.
Professur für Freie Bildende Kunst
Die Vorliebe für Berlin mag daher rühren, dass er in der Metropole stark verwurzelt ist: Stenschke studierte Malerei an der Hochschule der Künste, war Meisterschüler bei Prof. Hans-Jürgen Diehl, hatte einen Lehrauftrag an der HDK und war Gastdozent an der Uni der Künste Berlin. 2008 kam die Professur für Freie Bildende Kunst an der Fachhochschule Ottersberg.
In seiner Malerei setzt er sich als kreativer Forscher mit dem Verhältnis von Kunst und Wissenschaft auseinander. „Das geht bei mir über Zeitmodi.“ Die Kontinuität und Diskontinuität von Zeit und Raum übersetzt er in seinen Bildern auf unterschiedlichen Ebenen in Dynamik, Wellenbewegungen und Struktur. Mathematik, der Mikro- und Makrokosmos, Strömungsverhalten, Hirnforschung und physikalische Gesetze decodiert Stenschke mit Malerei.
"Das Spielerische ist mir wichtig"
Prozesshaft ist die Weiterentwicklung zu einer energetischen, eigenwilligen und reizvollen Formen- und Farbensprache, die auf der Meta-Ebene eine neue, abstrakte Verbindung eingeht. Streng geometrische Elemente treffen auf weiche, organische Figuren, Ordnungssysteme werden spielerisch durchbrochen oder weitergedreht. „Schwebende“ Kokons sind ein immer wiederkehrendes Symbol in den Arbeiten. Neben der Malerei bildet die Zeichnung eine eigene Werkgruppe. „Das Spielerische ist mir wichtig. Es ist die Freiheit, die ich mir nehme, Potenzial herauszufordern.“ Ehre und Herausforderung zugleich war es für den Künstler, als er 2010 eingeladen war, die Synagoge des Kunstvereins Oerlinghausen zu gestalten.
Vielseitig unterwegs ist Stenschke im doppelten Sinn. Von Mülheim kenne er noch nicht so viel, aber die Kontakte, die er bislang geknüpft habe, „die sind sehr angenehm“. Die direkte Art der Menschen kommt bei ihm an: „Die Leute sind kontaktfreudig und gesprächsbereit.“ Vor allem aber zugänglich, stellt Stenschke einen Vergleich mit einem Busfahrer in Berlin an, dem man Guten Morgen wünsche, und der darauf entgegne: Wat is denn an dem Morjen jut?