Mülheim. .

Mit einer symbolischen Schweigeminute sollte sich gestern ganz Deutschland vor den Opfern der rechtsextremistischen Terroranschläge verneigen. Das war die Idee. In Mülheim wurde sie ganz unterschiedlich umgesetzt – oder auch gar nicht. Vielerorts lief das gewohnte Leben weiter. Vier Momentaufnahmen vom Donnerstag, Punkt zwölf Uhr:

Zum ersten Mal seit Wiedereröffnung des Rathauses wehen die Flaggen auf Halbmast. „So kann man auch von Weitem sehen, dass wir Trauer zeigen“, sagt Stadtsprecher Volker Wiebels.

Symbolisch haben sich einige Mitarbeiter aus dem Jugendamt und dem Kommunikationscenter in der Rotunde des Rathauses versammelt, um gemeinsam zu schweigen und der Opfer zu gedenken. So läuft es immer ab, wenn eine deutschlandweite Schweigeminute stattfindet. „Mitarbeiter, die Zeit haben, beteiligen sich stellvertretend für die gesamte Verwaltung“, erklärt Volker Wiebels. Punkt zwölf: Alle in der Runde sind still, nur aus den hinteren Büroräumen klingeln die Telefone. „Der Publikumsverkehr muss natürlich weiterlaufen.“

Auch Tobias Grimm, Mitarbeiter aus dem Jugendamt, nimmt an der Aktion teil. „Ich finde, es ist ein wichtiger symbolischer Akt.“ So zeige man den Bürgern auch nach außen, dass man mitfühlt und Respekt ausdrückt. Würde er denn auch innehalten wenn er jetzt zu Hause wäre? „Ich würde wohl nicht um Punkt 12 Uhr schweigen – aber sicher in anderer Form an die Opfer denken.“

Kein schweigen im Supermarkt

Eine Minute vor zwölf – im Denge Market an der Eppinghofer Straße piepst die Kasse: „Dreisechsundneunzig bitte“, sagt die Frau, die dahinter steht, dann klingelt ihr Telefon, und sie beginnt ein auf Türkisch geführtes, fröhlich klingendes Gespräch.

Als sie auflegt, ist die offizielle Schweigezeit längst vorbei, und auch an der Frischfleischtheke wird ohne Unterbrechung bestellt, beraten, kommuniziert. Ein junger Mann klebt im selben Supermarkt um 12 Uhr Preisetiketten, das erledigt er in der Tat still und schweigend, denn er steht ganz alleine im Gang.

Blitzumfrage: Hat hier im Laden überhaupt jemand den öffentlichen Aufruf zum 60-Sekunden-Gedenken vernommen? Die drei Mitarbeiter zucken die Achseln oder schütteln den Kopf.

„Haben Sie von der Schweigeminute gehört?“ Ein älterer Herr, deutschstämmig, der gerade einen Kohlkopf bezahlt, antwortet: „Ja. Aber ich habe es wirklich vergessen.“ Davon abgesehen findet er die Aktion auch „etwas übertrieben“. Ein anderer Kunde, der sich gerade auf den Inhalt der Gemüsekörbe konzentriert, fragt ratlos zurück: „Was für eine Schweigeminute? Zu welchem Zweck?“

Stille an den Schulen

In mehreren Mülheimer Schulen dagegen findet die Gedenk-Aktion statt, auch in der Gemeinschaftshauptschule an der Bruchstraße. Lehrerin Klaudia Butta spricht bei dieser Gelegenheit mit ihrer sechsten Klasse über das Thema Rassismus. Sie redet mit den Jungen und Mädchen auch über deren eigene Herkunft und ihre Kulturen: „Wir haben ja zum Beispiel auch Kinder aus der Türkei und aus Albanien in der Klasse“, sagt sie.

Klaudia Butta erkundigt sich, ob ihre Schüler(innen) schon etwas über die Schweigeminute gehört hätten. Einige wussten davon, aber nicht alle. Ziel dieser kleinen Gesprächsrunde: „Es soll ein respektvoller Umgang unter den Kindern herrschen.“ Sie sollten keine Vorurteile wegen ihrer Herkunft untereinander haben.

"Heute beten wir um 13 Uhr"

Zwölf Uhr, Fatih Moschee an der Sandstraße: Gemeindemitglied Hasan Arik sitzt im Büro des Imams. Der 65-Jährige erzählt: Seit 40 Jahren lebt er hier, hat Kinder, Enkel und vier Monate bis zur Rente. Was ist mit der gerade stattfindenden Schweigeminute, hakt der Besucher erneut nach. Arik zieht die Schultern hoch, verweist auf das Mittagsgebet: „Heute beten wir um 13 Uhr.“ Ob er verstanden hat, was der Besuch eigentlich wissen will? Freundlich, in aller Ruhe erklärt er, wie sich die muslimischen Gebete auf den Tag verteilen, wie lange die einzelnen Gebete dauern. Fremde sind hier willkommen, wer sich interessiert, wird herzlich empfangen und herumgeführt.

Auch das scheint eine Möglichkeit zu sein Integration voranzutreiben, Hass entgegenzutreten. Es geht in die Küche, in der fünf Frauen türkische Pizza vorbreiten – für die Feierlichkeiten zum Freitagsgebet. 400 Leute werden erwartet und der Besuch einfach mit eingeladen. Was Arik über den rechtsextremen Terror denkt? Über die Opfer? Wieder zieht er die Schultern hoch, das freundliche Lächeln weicht der ernsten Mine. Worte hat er dafür nicht. Arik schweigt.