Mülheim. Die Zahl der Verbraucherinsolvenzen ist 2011 um 25 Prozent angestiegen. Schuldnerberatung befürchtet weiteren Anstieg

Über Geld spricht man nicht.“ Die Geltung dieses Satzes mag früher ein Ausweis von guter Kinderstube gewesen sein, doch angesichts von Euro-Krise und drohendem Staatsbankrott in Griechenland stellt sich heute zunehmend der Eindruck ein, als würde von überhaupt nichts anderem mehr gesprochen.

Adelheid Zwilling findet das gut. Sie ist Leiterin der Schuldnerberatung der Arbeiterwohlfahrt (Awo). Die Diskussion über Staatsschulden trage dazu bei, dass das Problem nicht mehr ausschließlich aus einer moralischen Perspektive betrachtet werde. „Natürlich ist die Scham immer noch da, wenn jemand öffentlich bekennt, dass er Schulden hat. Aber die Schwelle ,sich professionelle Hilfe zu suchen, ist niedriger geworden.“ Zwilling illustriert dies an einer Zahl: „Bei unserer Beratung am letzten Mittwoch sind allein 40 neue Fälle dazugekommen.“

Zustand der Gesellschaft

Und auch eine andere Statistik belegt, dass die Schuldnerberatung, die über drei Vollzeit- und eine Teilzeitkraft verfügt, sich über mangelnde Arbeitsbelastung nicht beklagen kann: Die Zahl der Verbraucherinsolvenzen ist 2011 in Mülheim um 25 Prozent angestiegen. „Warum das so ist, wollen wir noch in den nächsten Tagen auswerten“, sagt Zwilling. Für sie ist aber jetzt schon klar: „In dieser Schulden-Quote spiegelt sich der allgemeine Zustand der Gesellschaft wider. Sie ist Ausdruck einer Orientierungskrise.“ Was sie damit meint, kann sie gut anhand der 1358 Fälle verdeutlichen, die im letzten Jahr durch ihre Beratungsstelle gegangen sind.

Den Weg zur Privatinsolvenz gehen viele, aber nicht alle. „Wir haben auch junge Erwachsene bei uns sitzen, bei denen es um 500 Euro geht. Aber das ist für jemanden, der in der Ausbildung ist, unheimlich viel Geld.“ Gerade junge Menschen, nach Zwillings Schätzung rund ein Viertel ihrer Klientel, tappten immer öfter in die Schuldenfalle, weil sie ihr Konsumverhalten nicht steuern könnten.“ Es muss dann das neue Smartphone sein, obwohl man es sich nicht leisten kann. Aber es werden Standards durch das Umfeld gesetzt. Und die jungen Leute glauben, die müssten sie unbedingt einhalten. Dabei wissen sie oft nicht, dass eigentlich auch die anderen sich solche Dinge nicht leisten können. Es fehlt das Maß. Ein Gefühl für das, was angemessen ist, was nicht.“

Der Niedriglohnsektor

Mit dieser Frage hat auch die andere große Gruppe zu kämpfen, die die Schuldnerberatung aufsucht: „Immer mehr Menschen rutschen in den Niedriglohnsektor. Deren Budget ist knapp kalkuliert. Fällt einmal eine Position weg, sind ganz schnell Schulden da. Und es gibt kaum eine Möglichkeit, sie wieder auszugleichen.“

Für Zwilling eine andere Facette der Orientierungskrise: „Es fehlt das Gefühl für das richtige Maß - für das, was ein angemessener Lohn ist.“ Auch hier hält es Adelheid Zwilling nicht für unfein, vom Geld zu sprechen: „Ich bin ganz klar für den Mindestlohn. das ist eine Forderung, die sich ganz konkret aus unseren Erfahrungen in der Beratung ergibt.“ Sie macht eine Pause. „Ich befürchte, dass es in Zukunft eher schlimmer werden wird. Deswegen werden wir gebraucht.“

Es gibt in Mülheim zwar noch andere Anbieter in der Schuldnerberatung. Aber die Awo ist eindeutig der größte. Von 176 Fällen im November letzten Jahres wurden 139 von Zwillings Beratungsstelle bearbeitet. Ein typisches Verhältnis. „Eigentlich brauche ich eine zusätzliche Vollzeitkraft,.“ Und dann muss Zwilling schon wieder vom Geld sprechen. „Für das nächste Jahr ist unsere Arbeit noch finanziert. Durch die Leonhard-Stinnes-Stiftung. Was danach kommt, wird man sehen.“

Dabei verfolgt die Beratung einen besonderen Ansatz. Sie setzt auf Vorbeugung. „Wir haben Angebote für Kinder, im Vorschulalter. Die sollen ein Gefühl dafür bekommen, dass Geld etwas ist, was nicht einfach da ist. Sondern womit man haushalten muss.“ 2083 Kinder sind auf diese Weise im letzten Jahr erreicht worden. Mit Folgen: „Letztens sagte ein kleiner Junge nach der Veranstaltung zu seiner Mutter: ,Gib nicht immer so viel Geld beim Einkaufen aus - spare das lieber’.“ Hier lernt man tatsächlich, vom Geld zu sprechen.