Mülheim. Im November 1981 wurde das Theater an der Ruhr von Regisseur Roberto Ciulli, Dramaturg Helmut Schäfer und Bühnenbildner Gralf-Edzard Habben gegründet. Seit 30 Jahren ist Ciulli künstlerischer Leiter. Wie kann sich die Bühne heute gegen Dschungelcamp und Casting-Shows behaupten? Ein WAZ-Interview.
Das Logo mit dem Linksabbieger-Pfeil ist noch immer wegweisend für ein modellhaftes Theater auf der Reise, das den internationalen Austausch pflegt – besonders mit der islamischen Welt. Im November 1981 wurde das Theater an der Ruhr von Regisseur Roberto Ciulli, Dramaturg Helmut Schäfer und Bühnenbildner Gralf-Edzard Habben gegründet. Eine Künstlerische Leitung über 30 Jahre ist ein Novum in der Theaterlandschaft. Auch Sven Schlötcke ist nunmehr zehn Jahre in der Runde.
Warum wollten Sie keine große Feierlichkeiten zum 30. Geburtstag des Theaters?
Ciulli: Die Frage ist eine andere, ob wir uns selber feiern sollten, habe ich kritisch gesehen und war dagegen. Dieses Ansinnen hätte von außen kommen müssen.
Sie sind viel in der arabischen Welt unterwegs. Hätten Sie die Umbrüche, die es dort gab, erwartet?
Wir haben an den vielen Orten der Welt, an denen wir waren, immer gespürt, wenn eine politische Veränderung in der Luft lag, wenn eine Gesellschaft im Umbruch war. Wir waren damals in Chile genau mit dem richtigen Stück, „Tote ohne Begräbnis“, das Folter zum Thema hat. Es war genau die Zeit, in der die chilenische Gesellschaft begonnen hatte, sich mit dem Thema ihrer eigenen Vergangenheit unter Pinochet auseinanderzusetzen.
Wir haben das Revolutionsstück „Dantons Tod“, aber auch „Kaspar“, ein Stück über autoritäre Erziehung, in Tunis gezeigt. In dem Theater, das voller junger Menschen war, spürten wir die Empfänglichkeit für die Kritik am Regime, wir wussten: Da wird etwas passieren. Das war auch im Iran so. Dort waren wir kurz nach der Wahl Chatamis und vor der zweiten Wahl Ahmadinedschads, auf die Demonstrationen folgten. Aber das ist ein Spezifikum bei uns, weil wir Erfahrungen und Kontinuität in der Zusammenarbeit haben und so die Lage in den Ländern verfolgen können. Auch in der Zukunft wird die internationale Arbeit bei uns einen großen Stellenwert haben. Schwerpunkt wird der Austausch mit dem arabischen Raum und der Türkei sein.
Ortswechsel. Wohin wird sich die Gesellschaft in Deutschland entwickeln?
Eine der größten Katastrophen war die Erfindung des Privatfernsehens. Das Wort Liberalisierung enthält den Begriff Liberta, also Freiheit. Aber der Begriff Liberalisierung bedeutet eine ständige Kommerzialisierung. Ein Kommerz, der in eine Ökonomisierung der ganzen Gesellschaft abdriftet und immer mächtiger wird. Die zukünftigen politischen Entwicklungen können nichts anderes sein als ein Verlust an politischem Bewusstsein, der Qualität der Sprache und ein Verlust an Niveau in der politischen Auseinandersetzung. Andererseits ist festzustellen, dass die Kritik an der Ökonomisierung immer lauter wird.
Formate wie Dschungelcamp und Casting-Shows haben hohe Quoten. Kann Theater darauf reagieren?
Das ist eine ganz entscheidende Frage. Klar, dass das Privatfernsehen Geld verdienen will. Wir als subventioniertes Theater für die Stadt haben den Auftrag, die Brücke zur Bildung zu schlagen. Natürlich sind wir dem Publikum auch Unterhaltung schuldig. Und Theater hat auch mit Erotik und Lust zu tun. Es ist Spiel und nicht nur trockene Dokumentation. Wir verbinden beides. Theater muss die Leute verführen. Aber es wird immer schwieriger, sich gegen die Verflachung in der Unterhaltung – leider auch im Theaterbereich – durchzusetzen. Es ist eine Anbiederung an den vermeintlichen Zuschauergeschmack, die mir rätselhaft ist. Sollten wir uns anmaßen zu wissen, was dem Publikum gefällt, und darauf reagieren?
Eine große Rolle fürs Theater spielt die Jugend, die dort abgeholt werden muss, wo sie ist. Ist das schwierig?
Die Jugend ist das Publikum von morgen. Früher gehörte auch der Theaterbesuch mit der Familie selbstverständlich dazu. Heute haben wir die Besuche durch die Schule – wegen der Curricula oder dem Abitur-Stoff, aber das reicht nicht. Und der erste Theaterbesuch ist so auch reichlich spät. Denn mit ihm entscheidet sich meist, ob ein junger Mensch Theater-Zuschauer wird. Seit Jahren entwickelt das Theater eine Zusammenarbeit mit den Schulen Mülheims und Duisburgs. Die Klassen besuchen auch Vorstellungen unseres Repertoires. Nicht nur die Stücke, die auf dem Lehrplan stehen oder im Abi gefragt sind. Das ist wichtig. Warum sollte sich ein junger Mensch mit 17 oder 18 nicht unsere Fassbinder-Inszenierung oder unser Pirandello-Projekt angucken? Anstatt vordergründig auf das Curriculum zu schielen, sollte Schule auch einen anderen Zugang zu Themen wie Antisemitismus oder Faschismus in Deutschland bieten (Anm.: Themen der o.g. Inszenierungen). Zudem sollte Theater Pflichtfach in Schulen werden.
Sie arbeiten gerade am Stück „Immer noch Sturm“ von Peter Handke.
Es ist ein sprachlich wundervolles und sehr politisches Theaterstück. Das zentrale Thema ist die Auseinandersetzung mit unserer eigenen Geschichte. Das gehört zum Beispiel zu unserem Auftrag, ein solches Stück auf die Bühne zu bringen. Es ist eine Hommage an die Sprache, Kultur und das Leben unserer Ahnen, an unsere Geschichte, auch im Kleinen, damit wir sie nicht verlieren.
Sie haben mit „Kaspar“ ein zweites Stück von Handke im Repertoire. Seit wann?
Seit 25 Jahren. Ich hatte Peter Handke zur Aufführung in Tunis eingeladen. Er musste leider absagen. Aber er hat mir in dem Brief geschrieben: „Was für ein Heroismus; Ihrer und Ihrer Gruppe“ – es gibt kein anderes Theater, das seit 25 Jahren Kaspar spielt.
Gibt es Themen, die sie sich vorgenommen haben?
Theater wird es immer geben, bis eine ideale Gesellschaft realisiert ist, bis dahin bieten sich immer Themen: Entpolitisierung, der Verlust an Solidarität, die latente Aggressivität der Menschen, der Verlust des Mitgefühls für Schwächere oder Menschen, die „anders“ erscheinen. Aber durch die zunehmende ideologische Ökonomisierung verlieren wir uns in Details anstatt Visionen für eine Gesellschaft zu entwickeln. In einer Gesellschaft muss es doch noch möglich sein, Utopien zu entwerfen. Man muss das Unmögliche wollen. Auch die Politik sollte Visionen haben. Zur Kunst sollte Politik gehören und zur Politik auch die Kunst.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Alles, was man sich als Theatermann wünschen kann, ist, dass man wahrgenommen wird. Und das werden wir. Ich blicke nach vorne. Und ich erlebe jetzt, dass die Zukunft des Theater an der Ruhr schon angefangen hat.
Treppe nach oben - ein Theaterstück als Fotostrecke