Mülheim. . Im Kino boomten Slapstick-Stummfilme, Herren vergnügten sich im „Gasthof zum Wilden Mann” - bei der Auftaktlesung der “Reihe zur Mülheimer Geschichte“ deckte Stadtarchiv-Leiter Dr. Kai Rawe Interessantes über die Freizeitgestaltung ums Jahr 1912 auf.
Freizeit – die kannten die Menschen eigentlich erst seit der Industrialisierung. Vorher gab es in den meist bäuerlichen Haushalten eigentlich immer etwas zu tun. Als dann aber die Arbeit in der Fabrik aufkam, samt der Stechuhr, die festhielt, was Arbeits- und was Freizeit war, hatten die Menschen in Mülheim wie anderswo auf einmal einen „Feierabend”.
Diese und andere interessante Tatsachen rund um die Freizeitgestaltung zu Beginn des 20. Jahrhunderts deckte Dr. Kai Rawe, Leiter des Mülheimer Stadtarchivs, bei der Auftaktlesung für die „Reihe zur Mülheimer Geschichte” im Foyer des Kunstmuseums auf.
In der Vereinsmeierei austoben
Er hat nachgeforscht, was die Mülheimer um das Jahr 1912 herum mit der neugewonnenen Mußezeit anstellten: So blühte auch hierzulande die Vereinskultur auf. „Da konnte sich die sogenannte deutsche Vereinsmeierei austoben”, so Rawe. 130 Vereine gab es etwa – davon allerdings nur zwölf Sportvereine. Der Rest setzte sich aus Chören, speziellen Interessenvereinen oder „patriotischen Vereinen” zusammen. Auch einen Lotterieverein und einen Ziegenzuchtverein gab es in Mülheim.
Voller Vorfreude erwarteten die Mülheimer damals Feiertage wie den Geburtstag des Kaisers: Dann ging man schick essen, nahm an Bällen und Banketten teil. Preislich war hier für jeden etwas dabei: Man konnte für zehn Pfennige ausgehen oder für zwei Mark fünfzig (dann bekam man auch Ochsenfleisch serviert).
Eine große Attraktion war auch das neu aufgekommene Kino: Auch in Mülheim gab es eine „Elektrische Lichtbühne”, die kurze Stummfilme zeigte. „Eine Attraktion für die kleinen Leute” sei das zumeist gewesen, denn die Filme waren oft reißerisch oder grober Slapstick. Im Zentralhallentheater wurde neben „Kinematographischen Vorführungen” aber noch eine weitere neue Technik vorgeführt: In der Zeitung warb es mit „Versuchen mit Röntgenstrahlen”. Ein eventuell nicht ganz gesundes Vergnügen...
Natur stand hoch im Kurs
Viele Familien gönnten sich nach der Arbeit in staubigen Fabrikhallen am Wochenende gern einen Ausflug ins Grüne. Die Herren bevorzugten dabei eventuell Etablissements wie den „Gasthof zum Wilden Mann”, wo freizügige Damen-Kapellen ein vermutlich recht anzügliches Unterhaltungsangebot darboten, es gab aber auch sehr viele ebenso seriöse wie idyllische Ausflugsziele: Dicken am Damm beispielsweise, oder das Gasthaus Kahlenberg. Gern spazierte man damals durch die Wälder, Natur stand hoch in Kurs. Viele Wanderwege wurden damals ausgebaut. Aber manchmal gönnte man sich ein ganz besonderes Erlebnis: Eine Fahrt mit der Straßenbahn. Die war damals so neu und beliebt, dass sie auf keiner Abbildung Mülheims fehlen durfte.
Und natürlich gab es den Karneval und die Kirmes - „In Mülheim war vor allem die Broicher Kirmes ausschlaggebend”, so Kai Rawe. „Dort wurden als Attraktionen zum Beispiel die zwölf kleinsten Pferde der Welt angeboten, oder eine Dompteuse, die Steppenwölfe und Bären zähmte. Das kann man wohl kaum überbieten.”