Mülheim. Die Jury tat sich schwer, sie lobte alle Stücke der 49. Mülheimer Theatertage, entschied sich schließlich aber für eine Neu-Fassung von „Nora“.
Der Mülheimer Dramatikpreis geht in diesem Jahr an Sivan Ben Yishai für „Nora oder wie man das Herrenhaus kompostiert“. Die Jury entschied sich nach fast dreistündiger Diskussion mit drei zu zwei Stimmen für diese „Neuschreibung“ von Ibsens Emanzipationsdrama „Nora“. Die israelische Autorin, die in Berlin lebt und aktuell zu den meistgeschätzten Dramatikerinnen in Deutschland zählt, erhält die Auszeichnung damit schon zum zweiten Mal, 2022 wurde sie bei den Mülheimer Theatertagen für „Wounds are forever“ ausgezeichnet.
Es war der letzte Festival-Beitrag, der damit das Rennen um den mit 15.000 Euro dotierten Preis machte. Den Zuschauerinnen und Zuschauern war er noch sehr präsent, weil er am Samstag kurz vor der öffentliche Jury-Debatte in einer Inszenierung des Schauspiels Hannover mit einem ausdrucksstarken, abstrahierten Bühnenbild und markanter Figurenzeichnung auf die Bühne gebracht wurde.
Übersetzerin fungiert als Co-Autorin von Sivan Ben Yishai
Das Team um Regisseurin Marie Bues hatte es mit einem vielschichtigen Text zu tun, der auch in einer besonderen grafischen Schriftform notiert wurde. Keine leichte Aufgabe. Besonders erwähnenswert: Da Sivan Ben Yishai auf Englisch schreibt, arbeitet sie immer mit einer Übersetzerin zusammen. Diesmal war es Gerhild Steinbuch, die einen ersten Vorschlag für die deutsche Fassung lieferte. Danach arbeiteten sie und die Autorin diese Satz für Satz durch. Dabei „wurde um jedes Wort gerungen“, wie die beiden Sprachkünstlerinnen im Publikumsgespräch verrieten.
Das Stück nimmt sich Ibsens „Nora oder ein Puppenheim“ von 1879 an, es ist aber keine Überschreibung des modernen Klassikers. Denn nicht Nora steht im Mittelpunkt, es geht stattdessen um ihre Bediensteten: einen Paketboten, das Hausmädchen, das Kindermädchen und schließlich auch Christine, mittellose Witwe und Freundin. Menschen, die sonst eher „unsichtbar“ sind. Sie begehren auf, weil sie ausgebeutet werden von einer verantwortungs- bis skrupellosen Hausherrin.
Machtstrukturen des Theaterbetriebs werden in Frage gestellt
Das Stück behandelt das Thema aber auf verschiedenen Ebenen. Ben Yishai überträgt es auch auf den Theaterbetrieb (mit Kritik an der Institution Theater hat sie sich früher schon beschäftigt). „Nora“ ist zur erfolgreichen Show avanciert, der Profitabilität wegen bleibt die Menschlichkeit aber auf der Strecke. Die Chefin generiert sich als Feministin, dabei diskriminiert sie alle, die für sie arbeiten. Das Stück sei ein „großer Anklagetext“ hieß es seitens der Jury und ein „Plädoyer für den intersektionalen (erweiterten) Feminismus“. Das Herrenhaus steht als Metapher für Systeme, die es zu hinterfragen, einzureißen, zu kompostieren gilt. Damit Neues wachsen kann.
Auffällig gut war der gesamte Jahrgang 2024, einstimmig war das Juryurteil daher auch nicht. Zwei Juroren entschieden sich für „Juices“ von Ewe Benbenek, drei für Ben Yishais Werk. Sie würdigten den „unterhaltsamen wie tiefgründigen und humorvollen“ Theatertext, der bei Ibsen starte, aber in eine andere Richtung führe, der Randfiguren gegen Hauptfiguren antreten lasse. Die „Komplexität der Nora-Figur“ und die „sprachliche Kraft des Textes“, der auch mit Reimen und Klängen arbeite, wurden gelobt ebenso wie „die Radikalität der Perspektiven“ im Text. Dieser lege Machtstrukturen „über Bande“ bloß. Beeindruckend sei auch, dass die Frage nach der Aktualität des literarischen Kanons gestellt werde. Als einzigartig könne man Ben Yishais „genialen Riecher für böse Drehs“ bezeichnen.
Mülheimer Publikum votiert für „Laios“ von Roland Schimmelpfennig
Der Publikumspreis 2024 ging an „Laios“ von Roland Schimmelpfennig (Schauspielhaus Hamburg). Den Gordana-Kosanović-SchauspielerInnenpreis (vom Förderverein des Theaters an der Ruhr) für die beste schauspielerische Leistung beim diesjährigen Festival erhielt Dimitrij Schaad, der ein bravouröses Solo lieferte – in „The silence“ von Falk Richter (Schaubühne Berlin).
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