Mülheim. Fortsetzung der Mülheimer Theatertage: Falk Richter fordert das Reden ein, Thomas Köck mahnt echten Veränderungswillen an.
Mit „The Silence“ von Falk Richter in der Inszenierung der Berliner Schaubühne gingen die 49. Mülheimer Theatertage jetzt weiter: Es ist kein Theaterstück im engeren Sinne, das der Autor geschrieben hat, sondern ein sehr persönlicher Rückblick auf seine eigene Familiengeschichte - versetzt mit Videoaufnahmen von Gesprächen, die er kürzlich und tatsächlich erstmals im Leben mit seiner Mutter geführt hat.
Die Mutter könne die Familiengeschichte in drei Sätzen erzählen, so Falk Richter: Es sei doch alles problemlos verlaufen, den Kindern sei es gut gegangen. Ihr Sohn – also er – braucht viel mehr Zeit, um in Schilderungen, in Gefühlsausbrüchen und Reflexionen in Worte zu fassen, wie er alles erlebt hat und wie schmerzhaft es für ihn war (sehr souverän umgesetzt von Dimitrij Schaad). Es wurde viel geredet im ordentlichen, gut-bürgerlichen Haushalt, aber beharrlich geschwiegen über Gefühle, Ängste und Bedürfnisse.
„Ihre Verwundungen haben sich in meinem System festgesetzt“
Die Traumata der Kriegsgeneration, eigentlich auch schon die der Generation davor, haben sich fortgeschrieben im Sohn. Weil die Eltern noch zu sehr mit dem Erlebten beschäftigt waren. Weil sie ihre Kraft darauf verwandten, zu verarbeiten und zu verdrängen - und es ihnen daher an Interesse und Empathie für ihre Nachkommen fehlte. „Ihre Verwundungen haben sich in meinem System festgepflanzt“, berichtet Falk Richter von erlittenem Seelenheil und vererbten Ängsten: „Ich will das nicht mehr fühlen!“
Das Schweigen der Kriegsgenerationen (als Bewältigungsstrategie) ist wissenschaftlich untersucht worden. Falk Richter liefert ein berührendes Beispiel dafür. Es tut dem Text aber gut, dass es darin Brüche gibt - immer dann, wenn es zu ausführlich und wehleidig zu werden droht. Selbstironische Bemerkungen, Ansprachen des Schauspielers an das Publikum, inszenierte Wutreden, Sprünge der Erzählung in andere Zeiten, die Befragung der Mutter werfen weitergehende Fragen auf. „The Silence“ ist ein Plädoyer dafür, im Miteinander nichts „wegzuschweigen“ und „alte Skripte nicht nachzuspielen“. Für Falk Richter ist Reden Gold.
Blind für die Gefahren unseres Systems, unwillig zu handeln
Weggeschwiegen und weggeschaut wird auch in Thomas Köcks neuem Stück „forecast:ödipus. Living on a damaged planet“. Der Autor liefert eine Überschreibung des antiken Ödipus-Stoffes, eine Endzeitgeschichte, die die Zerstörung unserer Umwelt, den Untergang unserer Zivilisation in den Fokus nimmt. „Wir laufen sehenden Auges in die Katastrophe - obwohl alles Wissen auf dem Tisch liegt“, so die These. Weil wir an ewiges Wachstum und unendliche Rohstoffe glauben und keinen Verzicht üben wollen. „Wir sind die Krankheit“, heißt es im Text. Und: „Die Zukunft weitet sich schon aus“. Aber statt etwas zu ändern am turbokapitalistischen und patriarchalischen System, wird fieberhaft nach einem Übeltäter gesucht.
Ein schlauer Schachzug des Autors ist es, die Figur der Pythia, der weissagenden Priesterin, in die Geschichte einzufügen. Sie tritt in Zwiegespräch mit dem blinden Seher Teiresias. Hier die idealistische Expertin, die die wissenschaftlichen Fakten ungefiltert aufzeigt und Veränderung anmahnt, dort der opportunistische Berater, der auch schon einmal einfach weissagt, was andere (Politik und Volk) hören möchten.
Chor besteht in dieser modernen Version aus „Wohlstandwutschnaubende“
Der (groteske) Chor besteht bei Köck aus „Wohlstandswutschnaubenden“, eine herrliche Idee . Es sind Rentner in beiger Kleidung, die sich selbst bemitleiden, nach Erklärung dürsten und geflissentlich übersehen, dass ihr Lifestyle der Grund des Problems ist. „Soll ich am Lebensabend auf die Bremse treten?“, fragt einer. Man liebt den Text für solche Sätze, auch für ironische Brechungen wie „Erkenne dich selbst - dann ist der Bildungsauftrag vollzogen!“.
Diese sprachlichen Finessen lassen vergessen, dass sich auch einiges zu arg wiederholt im Stück. Der Abend, bitter-witzig inszeniert von Stefan Pucher (Schauspiel Stuttgart), endet in einem furiosen Showdown. Die Wutrede der Iokaste zielt auf jeden ab – auch auf das Theater, die Schauspieler und das Publikum. Bislang, so Thomas Köck, schalten alle – trotz eines gelegentlichen Schauderns angesichts der Bedrohung – immer wieder auf „back to normal“. Nichts ändert sich.
Letztes Stück („Nora oder wie man das Herrenhaus kompostiert“ von Sivan Ben Yishai) und Bekanntgabe der Festival-Gewinner am Samstag, 25. Mai, ab 18 Uhr in der Mülheimer Stadthalle., Infos: stuecke.de
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