Mülheim. Uroma Ilse Schneider (98) kocht gerne für die ganze Familie. Seit ‘59 lebt die Mülheimerin in ihrer Wohnung. Früher gab’s hier lange Partynächte.
Ilse Schneider steht im Korridor, gerade Schultern, wacher Blick, gute Laune. Wer fremd ist, sucht jetzt vielleicht die 98-Jährige, die in dieser Wohnung an der Stettiner Straße seit einer halben Ewigkeit lebt. Die agile Frau, die zur Begrüßung herbeikommt, kann unmöglich so alt sein. Oder doch?
Auf dem Wohnzimmersofa ruht ein Kissen in Form eines Pferdekopfes. Eine Urenkelin von Ilse Schneider hat es genäht und geschenkt. Das Mädchen ist 14 und hat noch eine Zwillingsschwester. Mit den beinahe hundert Lebensjahren kommt es also hin. Und seit über 64 Jahren ist die Mülheimerin schon Mieterin in diesem Sechs-Familien-Haus, das mittlerweile - nach mehreren Eigentümerwechseln - Vivawest gehört. Zum 60-Jährigen bekam sie einen großen Blumenstrauß geschenkt und eine Monatsmiete erlassen, erzählt die Seniorin beiläufig.
Mülheimerin zog im Juni 1959 an die Stettiner Straße - ringsum waren Felder
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Der Mietvertrag wurde am 15. Juni 1959 noch mit den Rheinisch-Westfälischen Wohnstätten abgeschlossen. Mit damals 139 D-Mark für rund 75 Quadratmeter sei die Wohnung relativ teuer gewesen, erinnert sich Ilse Schneider, die mit ihrem Ehemann einzog und der elfjährigen Tochter Gisela. Die Familie hatte vorher in der Martinstraße gelebt, nicht weit entfernt.
Rund um das neue Zuhause, wo heute alles dicht bebaut ist, „da waren nur Felder und Schrebergärten“. Viele benachbarte Gebäude entstanden viel später. Allein im Haus an der Stettiner Straße wohnten zwölf Kinder, alle ungefähr in Giselas Alter. Die Tochter sagt: „Sie können sich vorstellen, was hier los war. Wir haben immer draußen gespielt. Meine Kindheit war sehr schön.“
„Mein Mann musste unterschreiben, dass ich arbeiten gehen darf“
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Beide Eltern waren berufstätig. Ilse Schneiders Ehemann arbeitete bei den Rheinischen Röhrenwerken, später Mannesmann, sie selber als kaufmännische Angestellte, erst bei einer Mülheimer Lederfabrik, später bei einer Betriebskrankenkasse. Fast alle Frauen in ihrer Nachbarschaft seien berufstätig gewesen, berichtet die 98-Jährige - keine Selbstverständlichkeit in den fünfziger, sechziger Jahren. „Mein Mann musste unterschreiben, dass ich arbeiten gehen darf, und dass ich mein Gehalt selber in Empfang nehmen darf.“ Ebenso musste er zustimmen, als sie ihren Führerschein machen wollte. „Man durfte gar nichts.“
Viel Freizeit wurde im Kreise der Nachbarinnen und Nachbarn verbracht. Gerne in der ehemaligen Gaststätte Schmitz an der Ecke Mellinghofer / Mühlenstraße, wo man sich sonntags zum Frühschoppen traf oder mal abends zum Absacker. Heute befindet sich dort ein indisches Restaurant. Ihre Eltern hätten sehr früh ein Auto besessen, sagt Tochter Gisela, einen VW Käfer, mit dem es häufig in den Urlaub nach Italien ging. Und sie seien im Bekannten- und Freundeskreis die Ersten mit einem Fernseher gewesen. Oft kam Besuch, um gemeinsam Kuhlenkampff oder Krimis zu gucken. Oft wurden es dann lange Abende, besser gesagt: Nächte.
Mit den Nachbarn im Haus gerne und viel gefeiert
„Wir haben sehr viel gefeiert“, bestätigt Ilse Schneider, „auch hier im Haus. Wenn andere frühmorgens arbeiten gegangen sind, standen wir manchmal noch auf dem Balkon.“ Inzwischen seien alle Nachbarinnen und Nachbarn von damals leider verstorben. Vor 18 Jahren verlor sie auch ihren Ehemann, nach einem Herzinfarkt. Doch die Hausgemeinschaft, zu der heute auch wieder junge Familien mit Kindern gehören, ist anscheinend immer noch intakt.
Auf die älteste Mieterin wird geachtet. Hat sie die Zeitung hereingeholt? Sie ist Frühaufsteherin. Brennt morgens das Licht? Sollte das nicht der Fall sein, schaut jemand nach ihr. Es kann aber auch sein, dass sich Ilse Schneider in den Urlaub verabschiedet hat. Wie zuletzt im Juli: Jeden Sommer fährt die ganze Familie an die Ostsee. Vier Generationen.
98-Jährige fährt noch alleine mit der Straßenbahn in die Stadt
Da es die alten Lebensmittelgeschäfte in der Nähe und den Metzger um die Ecke nicht mehr gibt, unternimmt Ilse Schneider wöchentlich einen Großeinkauf am Heifeskamp, begleitet von ihrer Tochter Gisela. Einkaufsmöglichkeiten im Umkreis gebe es gar nicht mehr, „für ältere Leute ganz schlecht“. Wobei sie selber noch sehr mobil ist. Wenn ihr danach ist, fährt die 98-Jährige mit der Straßenbahn in die Mülheimer Innenstadt. Sie geht alleine zum Arzt. Kocht jeden Mittag.
Sonntags gibt es aus Ilse Schneiders Küche Essen für die ganze Familie, die in ihrer Wohnung zusammenkommt. Tochter, Enkelin, Urenkelinnen. Es gibt Braten oder Rouladen, vorher vielleicht eine Suppe. „Ich koche wie meine Mutter.“ Wer verhindert ist, wer nicht mit am Tisch sitzen kann, für den wird eine Portion eingepackt. „Kochen, das ist für mich Erholung. Nur rumsitzen kann ich nicht.“
Die Frau geht auf die Hundert zu.
Wir suchen die „dienstältesten“ Mieterinnen und Mieter in Mülheim. Wohnen Sie auch schon sehr lange im selben Haus, länger als Ilse Schneider? Dann sind wir gespannt auf Ihre Geschichte. Schreiben Sie uns per Mail an redaktion.muelheim@waz.de oder an die WAZ-Redaktion, Wallstraße 3a, 45468 Mülheim, Telefon-Kontakt: 0208-44308-31.