Mülheim. Die Realschule Mülheim-Broich ist Pilotschule eines Projekts gegen (Cyber-)Mobbing. Schüler lernen, was notfalls zu tun ist – und werden mutig.
Zoe hatte in der Grundschule eine beste Freundin. Doch die machte Sachen, die Zoe traurig machten: „Sie hat mir ins Gesicht gespuckt, sie hat mir Backpfeifen gegeben, sie hat mich ,Bitch’ genannt.“ Lange hoffte das Mädchen, dass die Mitschülerin aufhört mit den Gemeinheiten. „Ich habe ihr immer wieder verziehen.“ Die Schikane aber hielt an, bis Zoe mutig genug war, zu sagen: „Du bist nicht mehr meine Freundin!“ Dass sie mit ihrer belastenden Geschichte nicht allein dasteht, hat die Zehnjährige jüngst erfahren: beim Schulprojekt „Gemeinsam Klasse sein“ an der Realschule Broich.
Eine Woche lang beschäftigten sich dort mehrere fünfte und siebte Klassen mit den Fragen, was Mobbing und Cybermobbing eigentlich ausmacht, wie man sich davor schützen und Klassenkameraden notfalls helfen kann. In anderen Bundesländern gehört das Projekt der Techniker-Krankenkasse seit Jahren zum Schulalltag. „In NRW ist es neu“, erzählt Sandra Komm, 2. Konrektorin der Realschule, die sich jüngst zu einer der landesweit ersten Multiplikatorinnen ausbilden ließ und ihr Wissen vor Ort an Kollegen weitergibt. Broich sei damit „eine von 20 Pilotschulen in NRW“.
Lehrerin an Mülheims Pilotschule: „Viele haben sich geöffnet. Es sind Tränen geflossen“
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Etliche Jungen und Mädchen haben Erfahrung mit Mobbing gemacht. Dass es gut tut, darüber zu sprechen, dass man es nicht aushalten muss und sich Verbündete suchen kann: All das haben die Realschüler in der Projektwoche erfahren. „Viele haben sich geöffnet. Es sind Tränen geflossen“, erzählt Komm. Wie stark sie dies als Klasse gemacht und sie zusammengeschweißt hat, davon erzählen im Pressegespräch auch Elias (10), Ayham (10) und Johanna (10) ganz selbstbewusst.
Am Tisch sitzt auch ein Zwölfjähriger, der die siebte Klasse besucht. Er mag seinen Namen nicht in der Zeitung lesen, öffnet sich aber. Und verrät etwas, das durchaus unangenehm ist: Er kennt beide Seiten – auch die des Täters. „In der dritten und vierten Klasse gab es einen Jungen, der uns oft geärgert hat. Eines Tages haben drei andere und ich ihm aufgelauert und ihn festgehalten. Er ist weinend davongelaufen.“ Die vier mussten zum Schulleiter und einen Entschuldigungsbrief schreiben. Es sei „dumm“ gewesen, was sie gemacht hätten, findet der Siebtklässler heute. Und das Um-Verzeihung-Bitten habe wirklich geholfen.
„Klassisches Mobbing ist es erst, wenn man das Problem allein nicht mehr lösen kann“
Elias, frisch geschulter Mobbing-Experte, wertet diesen Fall eher als „Konflikt“. Denn klassisches Mobbing zeichne sich dadurch aus, „dass man das Problem allein überhaupt nicht mehr lösen kann“. Und das sei in dieser Konstellation wohl nicht so gewesen. Die zweite Geschichte des Siebtklässlers aber, da sind sich alle einig, war genau solch ein verhängnisvoller Fall. Daran haben auch Sandra Komm (46) und ihre Mitstreiterin, Schulsozialarbeiterin Yvonne Schmidtmann (49), keinen Zweifel. Diesmal war er das Opfer.
„Angefangen hat es mit Corona und mit den Masken“, erzählt der Zwölfjährige. „Von denen ist mir übel geworden und ich habe keine Luft mehr bekommen.“ Ein Arzt schrieb eine Maskenbefreiung. Diese sei in der Klasse aber nicht akzeptiert worden. Mitschüler begannen ihn zu piesacken, „sie haben mir von hinten einfach Masken aufgesetzt“. Und Lehrer hätten ihn permanent aufgefordert, endlich den Mund- und Nasenschutz aufzuziehen. „Ich musste am Einzeltisch sitzen, durfte bei Gruppenarbeiten nicht mitmachen.“ So verfestigte sich der Eindruck: „Die tun alles, um mir den Kontakt zu anderen Kindern zu verbieten.“
Permanenter Druck führte dazu, dass der Zwölfjährige jegliche Motivation verlor
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Gleichaltrige nannten ihn Querdenker, der permanente Druck führte schließlich dazu, „dass ich irgendwann keine Lust mehr hatte, noch irgendetwas zu machen: keine Hausaufgaben und auch sonst nichts mehr“. Erst ein Schulwechsel half ihm, erzählt der Zwölfjährige.
Erfahrungsberichte wie dieser, Rollenspiele, Filme: Die Kinder und Jugendlichen haben sich dem Thema Mobbing auf vielfältige Art und Weise genähert. So auch über die fiktive Figur Anna. Elias erzählt empört von dem Film über die Schülerin: von einer Whatsapp-Gruppe mit dem Namen „Alle gegen Anna“, die die Täter eingerichtet haben, und von peinlichen Bildern des Mädchens, die verbreitet worden sind. Und von der Feigheit der Mitläufer: „Die wollten nicht auch noch gemobbt werden.“ Und wurden so quasi zu Mittätern. Elias und die anderen haben gelernt: „Bei Mobbing gibt’s keine Unbeteiligten. Zuschauer machen mit.“
Schulsozialarbeiterin: „Die Klassen sind gestärkt aus der Projektwoche hervorgegangen“
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Sich anzuvertrauen und über Gefühle zu reden, auch auf die Gefahr hin, verletzt zu werden: Das ist alles andere als selbstverständlich für Fünft- und Siebtklässler. Doch es ist ungemein wichtig, sagt Komm, „man erfährt so viel voneinander“. Die Klassen seien gestärkt aus der Projektwoche hervorgegangen, findet auch Yvonne Schmidtmann: „Vorher haben sie oft nur gehört: Mobbing muss ganz schlimm sein. Jetzt sind sie sensibilisiert und wissen, wie man reagieren kann.“ Komm macht die Bedeutung von „Gemeinsam Klasse sein“ auch mit diesem Satz klar: „Mobbing kann psychisch krank machen, schlimmstenfalls zu so tiefer Angst führen, dass Kinder gar nicht mehr zur Schule gehen wollen und niemand weiß, warum.“
Ayham weiß jetzt, dass er gegebenenfalls, „sofort die Eltern informiert, die Lehrer und die Schulleitung“. Zur Not könne man „auch zur Polizei gehen“. Zoe hat beeindruckt, „dass Täter, die eine Anzeige bekommen haben, zum Beispiel nicht mehr Lehrerin werden können und andere Berufe“. Und dass ein Opfer Anspruch auf Schmerzensgeld haben kann. Die Jungen und Mädchen wissen nun auch: Man sollte Beweise sichern, also zum Beispiel einen Screenshot machen von ungewollt in Sozialen Medien veröffentlichten Fotos. Oder entlarvende Sprachnachrichten dauerhaft speichern.
In der Projektwoche wurde Johannas Geschichte intensiv aufgearbeitet
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Auch Johanna erzählt ihre Geschichte: „Zwei Jungs aus meiner Klasse waren in mich verliebt.“ Die Jungen hätten etwas über Sex auf einen Zettel geschrieben, sie auf dem Schulhof verfolgt und ihr den Mittelfinger gezeigt. Die Zehnjährige holte sich Tipps von ihrem Vater und von Sandra Komm. Die Jungs gingen auf Abstand – und auch ihr Entschuldigungsbrief half Johanna: „Sie haben geschrieben, dass es ihnen leid tut und sie nicht wussten, wie sie sich besser ausdrücken können. Und dass sie mich über alles lieben.“ Sie habe den beiden verziehen, „ich mag die immer noch sehr gern“. Im Projekt wurde Johannas Geschichte aufgearbeitet – und so womöglich langandauerndes, tiefer gehendes Mobbing verhindert.
Zoe geht es heute deutlich besser als in der Grundschule. Dabei ist sie auch auf der weiterführenden Schule noch mit der einst angeblich besten Freundin in einer Klasse. Das aber macht ihr keine Angst mehr: „Ich weiß jetzt: Wenn ich so eine schlechte Freundin habe, darf ich ihr nicht immer wieder verzeihen. Und ich weiß, dass ich zu Frau Schmidtmann gehen kann oder zu den Lehrern. Und das mir auch andere helfen würden. Ich habe jetzt zum Glück viele echte Freunde.“