Mülheim. Inmitten der Hyperinflation besetzen französische und belgische Truppen Mülheim. Wie sich das Leben am 11. Januar 1923 somit schlagartig änderte.
Krieg schafft Inflation und Not. Im Januar 1923 ist die Not in der Stadt mit ihren damals 125.000 Einwohnerinnen und Einwohnern groß. Die Reparationen, die Deutschland auch im fünften Jahr nach dem Ende des Ersten Weltkriegs tragen muss, haben die Reichsmark entwertet und eine Hyperinflation ausgelöst. Lag die durchschnittliche Teuerungsrate im Dezember 2022 bei 8,6 Prozent, so beträgt sie im Januar 1923 7400 Prozent.
Am 11. Januar 1923 erreicht Mülheim eine weitere Schockwelle. Mit dem Ruhrgebiet wird auch Mülheim von französischen und belgischen Truppen besetzt. Die Besatzer kommen am Nachmittag mit der Eisenbahn. Endstation: Speldorf Bahnhof. Später besetzen die französischen Soldaten auch die anderen Mülheimer Bahnhöfe in Eppinghofen, Styrum und Heißen, um den Kohletransport kontrollieren zu können.
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Mit dem bereits im Dezember 1922 angedrohten Marschbefehl in Richtung Ruhr will der damalige französische Premierminister Raymond Poincare die vom Reichskanzler Wilhelm Cuno geführte Reichsregierung zwingen, die Höhe der vereinbarten Reparationslieferungen aus dem Ruhrgebiet einzuhalten. Es geht also um die Kohle. Sie wird damals von den Mülheimer Zechen Humboldt, Wiesche und Rosenblumendelle in Doppelschichten zutage gefördert.
Die Mülheimer Zeitung veröffentlichte am 11. Januar 1923 einen Aufruf der deutschen Reichsregierung, in dem es heißt:
„Mitbürger! Gestützt auf militärische Gewalt, schickt sich die fremde Willkür an, erneut das Selbstbestimmungsrecht deutschen Volkes zu verletzen. Abermals erfolgt ein Einbruch unseres Gegners in deutsches Land. Die Politik der Gewalt verletzt die Rechte des deutschen Volkes. Sie bedroht das Kerngebiet der deutschen Wirtschaft, die Quelle unserer Arbeit, das Brot der deutschen Industrie und der gesamten Arbeiterschaft. Die Ausführung des Friedensvertrags wird so zur absoluten Unmöglichkeit und zugleich werden die Lebensbedingungen des schwer leidenden deutschen Volkes noch weiterhin zerrüttet.
Der 1919 unterzeichnete Vertrag von Versailles sollte den Völkern den ersehnten Frieden bringen. Was hier geschieht, ist eine Fortsetzung des Unrechtes und der Gewalt. Es ist Vertragsbruch, angetan einem entwaffneten und wehrlosen Volke. Trotzdem wird es nun überfallen. Wir klagen diesen Gewaltakt an vor Europa und vor der ganzen Welt. Laut erheben wir unsere Stimme, dass das heilige Recht des deutschen Volkes an eigenem Boden und sein Recht, zu leben vergewaltigt wird. Für das ganze deutsche Vaterland sollt ihr das Los der Fremdherrschaft erleiden. Harret in deutscher Treue. Bleibt fest. Bleibt ruhig. Bleibt besonnen.
Im Gefühl unseres guten Rechts treten in ernster Würde den Gewalthabern entgegen, bis der Morgen tagt, der dem Rechte seinen Platz und euch die Freiheit gibt. Wir aber geloben euch Treue und Hilfe. Unsere rastlose Sorge wird es sein und nichts wird ungeschehen bleiben, um die Dauer der Fremdherrschaft abzukürzen und eure Not zu lindern. An deutschem Gemeinsinn und an der opferwilligen Vaterlandsliebe werden die fremden Machtpläne zerschellen! Haltet fest an der deutschen Einheit und an unserem guten Recht!“
Mülheim in französischer Hand: Waffen werden eingezogen
1300 Soldaten des französischen Panzerbataillons 517 und des französischen Infanterieregiments 168 und deren Industrieinspekteure übernehmen in der Stadt die Macht. Sie quartieren sich im Rathaus, an der Rennbahn Raffelberg und in der Kaserne an der Kaiserstraße, aber auch in Gaststätten und privaten Wohnungen ein. Die französische Militärregierung verhängt Ausgangssperren und Versammlungsverbote. Die Ein- und Ausreise aus dem besetzten Ruhrgebiet wird streng kontrolliert und das Singen patriotischer Lieder verboten.
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Alle Waffen in Privatbesitz werden eingezogen und die ebenfalls bewaffnete Polizei aus dem Ruhrgebiet ausgewiesen. Das führt unweigerlich zum Anstieg der Kriminalität. Daran können auch die 270 Beamten auf Zeit nichts ändern, die vom französischen Büro für Zivile Angelegenheiten, das seinen Sitz im Rathaus hat, als „Ersatzpolizei“ eingestellt werden. Diebstähle, Raubüberfälle und Plünderungen sind ebenso an der Tagesordnung wie willkürliche „Bußgelder“, mit denen einige Besatzungssoldaten ihren Sold aufbessern.
Im April 1923 versuchen bewaffnete Arbeiter das Rathaus zu stürmen, um eine Lohnerhöhung durchzusetzen. Doch die Rathausverteidiger halten die Angreifer auch mithilfe von Wasserschläuchen auf Abstand. Dennoch gibt es sieben Tote und 60 Verletzte.
Mülheimer Fritz Thyssen avanciert zum Volkshelden
Der von der Reichsregierung unterstützte passive Widerstand gegen das französische Besatzungsregime wird zur Bürgerbewegung, die Arbeiter, Unternehmer und Beamte vereint. Der Industrielle Fritz Thyssen avanciert zum Volkshelden, nachdem er sich der Kooperation mit den französischen Besatzungstruppen verweigert hat und deshalb von einem Militärgericht in Mainz verurteilt wird. Sein Plan, eine vom deutschen Generalleutnant Oskar von Watter befehligte deutsche Widerstandsarmee an der Ruhr aufzustellen, scheitert aber an der fehlenden Rückendeckung durch Reichswehr und Industrie.
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Immer wieder kommt es zu Streiks und gewaltsamen Auseinandersetzungen mit der französischen Militärmacht, deren Vorgehen auch von ihren amerikanischen und britischen Verbündeten als illegal eingestuft wird. Viele Eisenbahner, die sich weigern, die Transportaufträge der Militärregierung auszuführen, werden inhaftiert. Nicht nur in Mülheim macht damals ein Spruch die Runde: „Siehst du eine Kiste stehen, so lass dich ruhig nieder. Denn der passive Widerstand kommt nie wieder.“
Besatzungssoldaten verlassen Mülheim 1925
Tatsächlich musste die Reichsregierung im Herbst 1923 ihre finanzielle Unterstützung des passiven Widerstandes einstellen. Denn täglich muss sie Lohnausfallkosten von 40 Millionen Reichsmark bezahlen. Hinzu kommen Erstattungen an die Ruhrindustrie für die von Franzosen und Belgiern erzwungenen Kohlelieferungen in Höhe von 700 Millionen Reichsmark. Nach dem Ende des passiven Widerstandes erreicht Oberbürgermeister Paul Lembke, dass die französischen Besatzer ihre Ausweisungen einstellen.
Die letzten der insgesamt 100.000 Besatzungssoldaten sollten erst im August 1925 das Ruhrgebiet und damit auch Mülheim verlassen, nachdem die USA und Großbritannien zwischen Frankreich und Deutschland eine vertragliche Regelung der industriellen Reparationslieferungen aus dem Ruhrgebiet vermittelt hatten.