Mülheim. Gegen seine Verurteilung wegen Missbrauchs eines Jugendlichen legte ein Mülheimer Priester Berufung ein. So entschied das Duisburger Landgericht.
Der wegen sexuellen Missbrauchs eines Jugendlichen vom Mülheimer Amtsgericht verurteilte katholische Priester ist vom Landgericht in Duisburg freigesprochen worden. Das Gericht konnte nicht zweifelsfrei klären, ob der heute 73-Jährige Mülheimer Geistliche tatsächlich Geld für Sex gezahlt hatte. Denn der damals 17-jährige Betroffene und Zeuge konnte sich an vieles nicht mehr erinnern.
Gut eine Stunde lang verlas das Gericht deshalb etliche dokumentierte Chatverläufe zwischen dem Zeugen, der sich dort „Momo“ nannte, und dem Mülheimer Priester. In denen ging es oftmals nicht sonderlich schüchtern zu: Schon die erste Konversation im März 2018 machte das besondere Angebot deutlich: Küssen, kuscheln, gegenseitige Befriedigung und Oralverkehr für 40 Euro „TG“ - kurz für „Taschengeld“. Mit Zunge sollte die Sexleistung fünf Euro mehr kosten: „Also 45 Euro?“ – „Ok.“
Jugendlicher wollte Geld- und Sachzuwendungen „mit Sex verrechnen“
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Sehr häufig war es Taschengeld, um das der 17-Jährige offen in den Chats bat, bei anderen Gelegenheiten fragte er nach Sportkleidung, einer Eintrittskarte für eine Sportmesse oder nach Computerspielen. Oder bat um Aufbaumittel für den trainierten jugendlichen Körper – „ich bin pleite, könntest du mir Proteinpulver online bestellen?“
Solche zum Teil vorab geleisteten Zuwendungen könne man doch „verrechnen“, boten sowohl „Momo“ als auch der Priester gelegentlich an. Was mit „Verrechnen“ gemeint sein könnte, fragte die Richterin. „Wahrscheinlich Sex“, räumte der junge Mann ein. Wobei den Chats zufolge das Vertrauen des Priesters groß gewesen sein musste, dass die sexuellen Leistungen auch erfolgen würden. Das Problem war demnach häufiger, einen Termin zu finden, wann diese erbracht werden können – etwa nach einer Taufe oder vor einem Gottesdienst.
Die Treffpunkte an einer Essener Tankstelle an der Ruhrallee oder an anderen Orten nahe der Innenstadt gehörten ebenso zur Routine wie die Stellen, an denen Sex stattfinden sollte: auf einem abschließbaren Friedhofs-WC, im Auto oder bei dem Angeklagten zu Hause – „dort haben wir auch ein Bett“, offerierte der Priester laut den Chat-Protokollen.
Mülheimer Priester suchte in Gay-Portal nach Kontakt zu jungen Männern
Kennengelernt hatten sich beide über das Portal GayRomeo, in dem der Priester ein klares Profil und Anliegen hinterlegte: Er wolle keine „Moralpredigt hören“, sondern Sex mit „jungen, athletischen Männern“, machte dieser deutlich. Was den damals Jugendlichen dazu bewegte, die Plattform aufzusuchen? „Erfahrung sammeln, Spaß haben, Leute kennenlernen“, gab dieser an. Und machte auch deutlich, dass er sich über seine sexuelle Orientierung, homo- oder heterosexuell zu sein, damals nicht im Klaren war. Die in den Chats sehr präsenten Geldinteressen erwähnte der junge Mann in diesem Zusammenhang jedoch nicht.
Die Frage „Geld gegen Sex?“ war allerdings der zentrale Punkt der Anklage gegen den Mülheimer Priester, die sich auf den Paragrafen 182 StGb stützte. Dieser legt fest, dass „eine Person über achtzehn Jahren bestraft“ wird, „die eine Person unter achtzehn Jahren dadurch missbraucht, dass sie gegen Entgelt sexuelle Handlungen an ihr vornimmt oder an sich von ihr vornehmen lässt“. Das Gesetz will verhindern, dass sich Jugendliche prostituieren.
Rechtlich ist Sex mit Jugendlichen nur unter 14 Jahren strafbar, ab 14 Jahren ist einvernehmlicher Sex grundsätzlich straffrei. Nur dann, wenn eine Zwangslage oder die fehlende sexuelle Selbstbestimmung ausgenutzt wird oder ein Entgelt gegen Sex gezahlt wird, spricht das Recht von „sexuellem Missbrauch“.
Von der Ware Liebe zur wahren Liebe
Doch ob zu den jeweiligen Verabredungen auch wirklich Sex gegen Taschengeld oder Ware getauscht wurde, daran fehlte dem jungen Zeugen offenbar jegliche Erinnerung. Bei Treffen, zu denen er im Vorfeld um „Taschengeld“ gebeten hatte, wusste der heute 22-Jährige nicht mehr, ob es tatsächlich zum Sex kam. Sie könnten auch einfach nur geredet und gekuschelt haben, sagte dieser. In anderen Fällen, wo der Zeuge Sex einräumte, wusste er nicht mehr, ob ihm davor oder danach Geld oder Sachen geschenkt wurden.
Oder ob überhaupt: Er hätte oft auch so mit dem damals 69-Jährigen Sex gehabt, bekannte der junge Mann. Denn peu à peu sollen sich die Treffen zwischen den beiden Männern aus Mülheim und Essen-Huttop zu einer Liebesaffäre gewandelt haben, gab der Zeuge an. Leichtes Gebäck oder Pommes vom „MC“ soll der Priester dem Jungen etwa gebracht haben, als dieser krank war. Heimlich, denn es sollte niemand – vor allem nicht die Eltern des Teeangers – von ihrer Liebe erfahren. Auch habe sich der Jugendliche mit vielen Problemen dem Priester anvertrauen können.
Die emotionale Zuwendung, das Zuhören sei für dem jungen Mann immer wichtiger geworden als die häufigen Bitten um materielle Unterstützung, gab dieser an. Den Sex habe er dem Priester dennoch oftmals „aus schlechtem Gewissen“ angeboten, weil er ihm sonst wenig habe bieten können.
Priester vertraute dem Jugendlichen wichtige Konto-Daten an
Die veränderte Beziehung zeigte sich auch im Ton zwischen den Männern: Immer wieder redete der Priester den Jungen mit „Schatz“, etlichen Smiley-Emoticons und „hab dich lieb“ an. Und umgekehrt bekundete der damals 17-Jährige: „Du bist mir ans Herz gewachsen.“ So weit sei die Beziehung gegangen, dass der junge Mann den Priester sogar fragte, ob er nicht jemand anderen kenne, der Sex gegen Taschengeld suche, weil er nicht für Geld mit ihm schlafen wolle.
Und so groß wurde offenbar auch das Vertrauen des Priesters in den Jungen, dass er ihm seine Account-Daten für das Amazon-Konto gab – die er auch nach der Affäre bis heute offenbar nicht änderte – und auch die Daten für seine Mastercard.
Richterin: „Sie scheinen ja ständig Taschengeld zu nehmen“
„Sie scheinen ja ständig Taschengeld zu nehmen“, stellte die Richterin beim Verlesen der seitenlangen Chats fest. Doch gerade in der juristisch entscheidenden Frage, ob der Priester für den Sex mit einem Minderjährigen auch bezahlt hat, konnte die Anklage den direkten Zusammenhang nicht nachweisen – „es war ein Sammelsurium von Motivationen“, begründete die Richterin den Freispruch für den Priester und hob somit das Urteil des Mülheimer Amtsgerichts auf.