Mülheim. Ein Groß-Projekt haben die wichtigsten Mülheimer Kultureinrichtungen auf die Beine gestellt. Ist der „Fatzer“-Abend gelungen, wie kam er an?

Der Sound des Krieges - das Donnern der Geschütze, das Pfeifen der Granaten und die gespenstische Stille nach der Zerstörung - begleitet die Zuschauer durch den gesamten Theaterabend in der Mülheimer Stadthalle. Auf dieser Klangcollage (Jörg Ritzenhoff) haben drei künstlerische Teams (mit Chor eigentlich vier) einen mehrteiligen, vielstimmigen Theater-Parcours entwickelt. „Ein Mensch wie ihr“, das erste große Projekt der Theaterallianz Vier.Ruhr, basiert auf dem „Fatzer“-Fragment von Bertold Brecht. Es ist ein Text zu Krieg und Desertation, zu Egoismus und Solidarität.

Mehr als 60 Darstellende und Dutzende von Mitarbeitern hinter den Kulissen haben in relativ kurzer Zeit ein multiperspektivisches Kunsterlebnis aus Theater, Tanz und Gesang für drei Bühnen entwickelt. Ein Experiment, das gelungen ist, ein gutes Beispiel für fruchtbare Kooperation von mehreren Kulturinstitutionen in einer Stadt - auch wenn es zwischendrin im abwechslungsreichen Theatermarathon (3 x 45 Minuten plus Abschlusschor und Fest) doch zähe Minuten gibt oder mancher Regieeinfall sich nicht erschließt.

Brecht berichtet in seinem Fragment von einer Flucht nach Mülheim

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Der Theaterabend startet mit einer Inszenierung zum „Fatzer“-Material vom Theaters an der Ruhr (Regie: Philipp Preuss). Ein starkes Bild gleich zu Beginn: Vier Männer in Federkleidern und eine Frau in schicker Robe imitieren pantomimisch ein Kriegsflugzeug, dann einen Panzer. Dazu erklingt ein rührseliger Walzer von Schostakovich. Die Handlung entspinnt sich nah am Brecht’schen Text - mit einigen Ergänzungen. Das Fragment erzählt von vier Soldaten (darunter Fatzer) die gegen Ende des 1. Weltkrieges desertieren, sich in Mülheim verstecken, auf die Revolution hoffen. Doch mit dem Warten auf Befreiung und Erlösung mehren sich die Konflikte unter den Fahnenflüchtigen.

Philipp Preuss schafft eine dichte Inszenierung, nutzt dabei - wie so oft - zahlreiche theatralische und filmische Mittel, eine expressive Bildsprache. Fotografien und Videos werden auf den Eisernen Vorhang oder einen Gaze-Vorhang projiziert. Dahinter - versteckt, wie in einem Käfig - die Deserteure, deren anfängliche Gemeinschaft durch die Ich-Bezogenheit des Fatzer immer mehr bröckelt. Die Ehefrau eines Soldaten kommt ebenfalls zu Wort. Was sie seit vielen Kriegsjahren vermisst: Nähe, Sexualität.

Wie Frauen Krieg und Flucht erleben. Berit Vander (re.), Schauspielerin am Theater an der Ruhr und Anya Dudkina, die aus der Ukraine geflohen ist, spielen mit in einem dokumentarisch-literarichen Beitrag zum „Fatzer“-Projekt von Christine Umpfenbach.
Wie Frauen Krieg und Flucht erleben. Berit Vander (re.), Schauspielerin am Theater an der Ruhr und Anya Dudkina, die aus der Ukraine geflohen ist, spielen mit in einem dokumentarisch-literarichen Beitrag zum „Fatzer“-Projekt von Christine Umpfenbach. © FUNKE Foto Services | Oliver Müller

Geflüchtete Frauen übernehmen wesentlichen Teil des Mülheimer Projektes

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Es kostet etwas Mühe, dem komplexen Text von Brecht zu folgen. Immer wieder aber blitzen großartige Sätze darin auf, die auch Regisseurin Christine Umpfenbach für ihren literarisch-dokumentarischen Beitrag zum „Fatzer“-Abend inspiriert haben. Fünf Frauen mit Fluchterfahrungen hat sie für das Stück interviewt und mit ihnen zusammen einen Text entwickelt, der mit seinen persönlichen Berichten einfach berührt. Ebenso wie die Filmaufnahmen von zerstörten Städten, die im Hintergrund zu sehen sind..

Was der Krieg und die Flucht mit den Menschen und der Gesellschaft macht, mit Männern und Frauen, wird aus hier aus weiblicher Perspektive erzählt. Dass zum großen Teil Laien spielen, wird schnell unerheblich. Auch wenn vielleicht manche Frage oder Forderung plakativ erscheint - sie kommt aus dem Herzen der Geflüchteten. Das Publikum quittiert das mit rhythmischem Applaus.

„Ein Mensch wie ihr
„Ein Mensch wie ihr" nach „Fatzer“ von Bertolt Brecht: Auch eine Tanzperformance ist beim Theaterprojekt in Mülheim zu sehen - choreographiert von Rafaële Giovanola. © FUNKE Foto Services | Oliver Müller

Performer erkunden ihre Körper und den Raum im Mülheimer Theaterfoyer

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Eine dritte Annäherung an die „Fatzer“-Themen haben Tänzerinnen und Tänzer - darunter ebenfalls einige Geflüchtete - um die Choreographie von Rafaële Giovanola erarbeitet. Im Theaterfoyer erkunden die Performer ihre Körper und den Raum - zunächst als Individuen, später als Paar, dann als Gruppe. Sie begegnen sich, interagieren, stoßen sich ab, kommen wieder zusammen - irgendwann auch mit den Zuschauern um sie herum. Dass macht das sinnliche Erlebnis noch unmittelbarer, es kommt gut an.

Zum Schluss führt ein Chor mit Akkordeon-Begleitung noch einmal zum Kern des Abends (Texte: Christine Umpfenbach). Die Musik hat Thorsten Töpp komponiert - zusammen mit Chorleiter Gijs Burger. Mitglieder der Kantorei der Petrikirche und Bürgerinnen und Bürger agieren mit großer sängerischer Präzision. Zwischendurch werden Plakate mit Botschaften hochgehoben, und Statements in den Raum geworfen. Man fühlt sich an eine Antikriegsdemo erinnert. „Was war eigentlich los?“ heißt es am Ende. Die Antwort: „Wir waren uneinig.“ Musste daraus Krieg entstehen?

Weitere Aufführungen: 3. und 4. November, 19 Uhr