Mülheim. Die Dunkelziffer bei sexuellen Übergriffen an Kindern ist enorm. Wie die Mülheimer Awo in ihrer neuen Beratungsstelle Hilfsangebote schafft.

Wie hoch die Fallzahl sexueller Übergriffe auf Kinder und Jugendliche in Mülheim ist? Zahlen darüber sind schwer zu bekommen. Auch Michaela Rosenbaum hat sie nicht. „Man kann statistisch von bis zu zwei Fällen pro Schulklasse ausgehen“, sagt die Geschäftsführerin der Mülheimer Awo. In Styrum an der Hauskampstraße hat die Awo seit Februar 2022 eine Fachberatungsstelle bei sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche eingerichtet. 16 Fälle sind dort bereits aufgelaufen.

Medial sichtbar werden oftmals die traurigen spektakulären Fälle wie der jüngste Fund von Kinderpornografie in fünf Mülheimer Wohnungen oder der Missbrauchsfall eines 33-jährigen Mülheimers an seinem siebenjährigen Cousin, der im vergangenen Mai verhandelt wurde.

Beratungsstelle in Mülheim startet mit zweieinhalb Stellen

Ohne Zweifel aber ist die Dunkelziffer ungleich höher als selbst die Fälle, über die nicht in der Zeitung berichtet wird – davon gehen auch Bereichsleiter Marcus Kuck und die Sozialpädagogin Kirsten Schumacher aus. Der Bedarf der ,neuen’ Beratungsstelle, die aktuell mit zweieinhalb Stellen ausgefüllt wird, ist aus ihrer Sicht zweifellos gegeben. Erst recht in der Ergänzung zum seit vielen Jahren in Mülheim bestehenden „Ele-fon“, dem kostenlosen Sorgentelefon für Kinder und Jugendliche.

Und auch Whatsapp wird inzwischen als niederschwellige Kontaktmöglichkeit angeboten und genutzt – wenn auch über den Messenger-Dienst nicht beraten wird.

Mit zwei Sozialpädagoginnen und einer Psychologin zielt die Anlaufstelle nicht allein auf das Einschreiten in akuten Fällen oder bei Verdachtsmomenten. Nicht immer wird übrigens sofort Anzeige erstattet, sagt Rosenbaum, denn ein ausgesprochener Verdacht – ob berechtigt oder nicht – kann den Beruf kosten.

Prävention von sexuellen Übergriffen ist ein zweiter Schwerpunkt

Daher müsse sensibel ermittelt werden, das wiederum stellt hohe Anforderungen an die Fachlichkeit der Beratenden. Auch im sozialen Bereich ringen Einrichtungen wie die Awo mit dem allgemeinen Fachkräftemangel. In berechtigten Fällen versichert Rosenbaum allerdings: „Wir tolerieren nichts.“ Wenigstens gleichberechtigt steht die Prävention – also die Ausbildung von Pädagogen und Beratung von Eltern – an der Seite der Intervention.

Für Schumacher, die seit Februar an der Hauskampstraße und an Bildungseinrichtungen berät, ist der Aufklärungsbedarf auch hier hoch. Insbesondere zum „Cybergrooming“, also die sexuelle Belästigung von Kindern über das Internet, gebe es viele Anfragen. Oftmals werden dabei Kinder in sozialen Netzwerken aufgefordert, Nacktaufnahmen von sich zu schicken oder erhalten selbst sogenannte „Dick-Pics“ – also Fotos von Penissen.

Cybergrooming und sexuelle Übergriffe unter Jugendlichen nehmen weiter zu

Zum Teil aber werden solche Aufnahmen auch unter Jugendlichen selbst verschickt. Denn die sexuellen Übergriffe unter jungen Leuten sind ein wachsendes Problem an Schulen. Nicht immer aber seien sich Schüler darüber bewusst, was sie damit auslösen „oder was aus dem Zusenden solcher Bilder resultieren kann“. Schumacher spricht daher lieber von „Handlungsfeldern“ statt Problemen, denn klar ist, „Schutzkonzepte gegen sexuelle Übergriffe werden alle Schulen erstellen müssen“.

Mehr Aufklärung und Sexualerziehung hingegen scheint ebenso an Kitas gefragt: „Was sind normale Doktorspiele, wie erkenne ich, dass ein Kind missbraucht wird?“, erläutert Schumacher. Die Verunsicherung besonders unter Eltern ist groß.

Nach Schließung einer Beratungsstelle vor zwei Jahren endlich ein Neustart

Gefördert wird die Beratungsstelle zu 80 Prozent durch Landesmittel. Awo-Geschäftsführerin Rosenbaum kann auf eine fast zweijährige Vorbereitungszeit zurückblicken. Auslöser war das Aus für die Beratungsstelle des Kinderschutzbundes im Juni 2020. Ein Aufruf des Landes im Mai vergangenen Jahres, mehr spezialisierte Beratungsstellen anzubieten, führte zu der heutigen Konzeption und zweieinhalb Stellen.

Rodion Bakum, Mülheimer Landtagsabgeordneter der Awo-nahen SPD, besucht die Einrichtung zur offiziellen Eröffnung am Freitagmittag. Er ist froh über die Entwicklung und sieht die Beratungsstelle hier auch richtig angesiedelt: „Die Awo macht mit dem Ele-Fon bereits einen tollen Job. Es ist deshalb konsequent, die Stelle auch hier zu etablieren. Beratungsstellen und vor allem niederschwellige Angebote sind leider aufgrund der vielen traurigen Fälle nötig. Man muss Menschen stärker dafür sensibilisieren, denn Kinder und Jugendliche werden zu oft wie selbstständige Erwachsene behandelt.“

Kontakt

Die AWO-Fachberatungs- und Anlaufstelle bei sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche befindet sich an der Hauskampstraße 58 in Styrum. Kontakt: 0208 45 00 37 02 oder per Mail an fbst@awo-mh.de

Das „Ele-fon“ ist kostenlos erreichbar unter der Nummer 0800 666 777 6.