Mülheim. Damit kein Rehkitz durch Mähmaschinen zu Schaden kommt, durchstreifen Naturliebhaber und Jäger Mülheims Wiesen. Was sie dabei erleben.
Sie ducken sich möglichst tief, kauern auf der Erde, sind mucksmäuschenstill und bewegen sich nicht: Rehkitze, die von ihren Müttern im hohen Gras zurückgelassen werden, machen sich so für Fressfeinde unsichtbar. Aber auch Landwirte können die Tierbabys dadurch nicht wahrnehmen, wenn sie mit ihren Mähmaschinen durch die Wiesen fahren. Damit die Jungtiere, die liegen bleiben anstatt zu flüchten, nicht verletzt oder gar getötet werden, durchstreifen derzeit ehrenamtliche Mülheimerinnen und Mülheimer wildreiches Gelände und retten die Kitze vor den Klingen der Maschinen.
„Wenn man mit so wenig Aufwand das Leben von Tieren retten kann, bin ich sofort dabei“, sagt Dennis Schaaphaus. Der 31-Jährige aus Dümpten ist noch relativ neu in der stetig wachsenden Gruppe Ehrenamtlicher, die sich mit Hilfe der Kreisjägerschaft während der Mahdsaison zusammenfindet, um die Wiesen abzulaufen, die gemäht werden sollen. Der Einsatz in der Natur sei für ihn ein willkommener Ausgleich zu seinem Schreibtisch-Job bei einer Bank, sagt Schaaphaus. Also zieht er nach Feierband Langärmeliges an – „man streift ja mitten durch die Felder, da lauern Zecken“ – und streift mit einer „ausgesprochen netten Gemeinschaft“, wie er sagt, los zum Wohle der Reh-Kinder.
Mülheimer Wiesen so ungemütlich wie möglich machen für die Rehe und ihre Kitze
Menschliche Witterung, den Duft der – angeleinten – Hunde, die oft dabei sind, fremde Geräusche und jede Menge Unruhe bringen die Naturliebhaber mit: Alles Gründe für eine Ricke, die Rehkitz-Mutter, ihr Kleines nicht in diesem Areal abzulegen und alleine zurückzulassen, erklärt Anke Gleichmar, Sprecherin der Mülheimer Kreisjägerschaft. Denn darum geht es: Die Wiesen, die alsbald gemäht werden, sollen ungemütlich für das Reh gemacht werden, damit es mit seinem Jungtier weiterzieht und woanders Unterschlupf sucht.
„Wir finden nur selten wirklich ein Kitz im Gras – in dieser Saison waren es drei oder vier“, sagt die Jägerin Gleichmar. Wird aber tatsächlich ein Tierbaby gefunden, nehmen es Fachkundige aus der Gruppe vorsichtig auf. Nur mit Handschuhen und möglichst noch mit Grasbüscheln oder Laub in den Händen fassen sie das Tier an, damit es nicht den Geruch des Menschen aufnimmt. Denn das könnte die Ricke später abschrecken, ihr Kitz wieder anzunehmen.
Naturliebhaber und Mitglieder der Mülheimer Kreisjägerschaft arbeiten Hand in Hand
Froh ist der freiwillige Helfer Dennis Schaaphaus über die fachkundige Begleitung von Seiten der Kreisjägerschaft und der Landwirte. „Das ist ja schon eine große Verantwortung, wenn man sich auf einmal um so ein Tierkind kümmern muss“, sagt der 31-Jährige. Zwei Mal habe er bei seinen Touren durch die Wiesen gesehen, wie aus dem hohen Gras zwei Ricken mit ihrem Nachwuchs geflüchtet sind. „Dann hat sich der Einsatz schon gelohnt, zumal wir ja auch andere Tiere aufscheuchen, denen die Mähmaschinen dann nichts mehr anhaben können“, findet Schaaphaus. Je älter die Kitze werden, desto mobiler werden sie, gucken sich von ihren Müttern das Flüchten ab und laufen schließlich auch weg, erklärt Anke Gleichmar von der Kreisjägerschaft.
Die Gruppe aus Landwirten, Nichtjägern und Jägern besteht laut Kreisjägerschaft aktuell aus knapp 90 Personen, teils laufen drei Einsätze pro Tag. Über Social Media hat die örtliche Jägerschaft zu Beginn der Mahdsaison zur Mithilfe aufgerufen, über eine Whatsapp-Gruppe koordinieren die Beteiligten die Einsätze: „Da schreiben die Landwirte rein, wann wie viele Leute an welcher Wiese gebraucht werden, und die Leute kommen“, berichtet Gleichmar.
Der Saarner Metzgermeister Thomas Jakob ist einer der Landwirte, die in die Whatsapp-Gruppe schreiben, wenn sie ihre Wiesen mähen und vorher „kitzfrei“ machen wollen. Der Mülheimer züchtet Rinder, die auf Selbecker Weiden stehen, und hat die Rehkitz-Suchaktionen bereits vor einigen Jahren mitinitiiert, denn: „Es ist so sinnlos, wenn ein Tier im Mähwerk stirbt.“ Den Einsatz der Ehrenamtlichen kann er nur loben: „Es ist toll, wie kurzfristig sich die Leute zusammenfinden.“ Denn den Mähtermin bestimmt weniger der Landwirt als das Wetter.
Mülheimer Kreisjägerschaft will Drohnen für die Suche nach Rehkitzen anschaffen
Auch auf den Wiesen von Landwirt Martin Siekerkotte waren die ehrenamtlichen Kitzretter schon unterwegs: „Das läuft top organisiert und pragmatisch.“ Auch auf seinen Flächen seien bei den diesjährigen Suchaktionen zwar noch Betten von Ricke und Kitz entdeckt worden, aber keine abgelegten Rehkinder mehr, berichtet Siekerkotte und nennt einen Grund: „Weil wir das Heu in diesem Jahr vegetationsbedingt spät geerntet haben, waren die Kitze wohl schon selbst auf den Beinen und sind abgehauen.“ Jakob und Siekerkotte sind sich einig, dass die Suche mit Drohnen, die bislang in Mülheim nur vereinzelt zum Einsatz kommen, noch einen zusätzlichen Effekt hätte, um Tiere zu retten. „Die Kreisjägerschaft wird bis 2023 eine Drohne angeschafft haben, die die Kitzrettung zusätzlich unterstützt“, kündigt die Pressesprecherin an. Ohne den Einsatz der menschlichen Suchtruppe aber ginge es nicht.
Die Mahdsaison neigt sich allmählich dem Ende entgegen, noch rund zwei Wochen, schätzt Jägerin Anke Gleichmar, dann ist das Heu gemacht. Im kommenden Frühsommer aber werden sie wieder unterwegs sein, Dennis Schaaphaus und die anderen eifrigen Kitzretter auf ihren Streifzügen durchs hohe Gras.