Mülheim. Junge Autoren der Mülheimer Stücke blicken auf ,unsere’ brüchige Identität: zwischen Wanne-Eickel und Istanbul. Aufführungen am 25. und 26. Mai.

Wer sind wir eigentlich, dass wir die Brüche, die Widersprüche in unserer eigenen Lebensgeschichte immer wieder überschreiten können? Oder gar daran scheitern. Was macht das mit unserer Gesellschaft? Zwei „Stücke“ blicken in dieser Woche auf die Konflikte in uns, die stets auch soziale Sprengkraft in sich bergen. Eine junge Autorin und ein Autor bieten Perspektiven voller Witz, Spitzen und Selbstironie: Familiengeschichten zwischen Istanbul und Wanne-Eickel, zwischen Gangsterrap und Ton, Steine, Scherben.

Regisseur Akın Emanuel Şipal zeigt diesen Zwiespalt anhand seiner eigenen Familiengeschichte. Vom Jahr 1914, in dem Ur-Opa sein Bajonett in den Bauch eines Feindes bohrt. Über die Warnung des Generalkonsulats der BRD im Jahr 1957 an das „sehr geehrte Fräulein“ Oma aus Wanne-Eickel „vor der Ehe mit einem Mohammedaner“. Zum Abschied der fünfjährigen Mutter 1973 aus Istanbul – und der Ankunft in Gelsenkirchen. Bis zum „Alter Ego“ des jungen Autors selbst, der 2018 mit den Identitäten seiner Familie mindestens so hadert wie mit Vorurteilen über Deutschtürken.

So urteilte die Mülheimer Jury: „Vielstimmige Spurensuche“

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Şipals „Mutter Vater Land“ ist jedoch keine wütende Anklage geworden, die Szenen, Anekdoten, Tiraden, Träume und – ja – auch Rachefantasien aus hundert Jahren türkisch-deutscher Familiengeschichte sind immer auch gepaart mit Selbstironie. Eine ehrliche Suche nach der eigenen Identität, nach Heimat.

„Keine Migrantensoap“, lobte die Stücke-Jury zur Mülheim-Nominierung, „sondern ein kraftvolles, kurzszenisch verdichtetes Geflecht mit Drive und Witz, eine vielstimmige Spurensuche bis tief in die letzte westöstliche Stammbaumverästelung.“

Auch Autorin Sarah Kilter weiß von den biografischen Widersprüchen zu erzählen: 1994 wurde sie in Berlin geboren, ihr Vater kam aus Algerien. Kilter wuchs auf zwischen Ost und West, Gangsterrap und Ton Steine Scherben. In dieses Setting setzt „White Passing“ – auf Deutsch: als Weiß durchgehen – auch die Hauptfigur: eine junge Frau mit Kunstambitionen, der ihr Migrationshintergrund weder anzusehen noch an ihrem Namen abzulesen ist.

Selbstironisch: Kilters „White Passing“ nimmt die deutsche Mehrheitsgesellschaft aufs Korn.
Selbstironisch: Kilters „White Passing“ nimmt die deutsche Mehrheitsgesellschaft aufs Korn. © Foto Tom Schulze Leipzig | Foto Tom Schulze Leipzig

Ein Leben zwischen den Stühlen, zwischen Bushido und Böhmermann

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Als diese an ihrem Geburtstag nach Hause kommt, parken vor der Tür der SUV und das Rennrad ihrer Freunde Max, Jule und Thomas, Klischee-Akademiker wie aus dem Lehrbuch. Kurzerhand nimmt die junge Frau Reißaus, dahin zurück, wo sie zeitweise bei ihrem algerischen Vater aufgewachsen ist, wo sie sich in ihren Cousin mit den vom Sprayen bunten Fingernägeln verknallt und Bushido ihr alleiniger Held war.

Raffiniert und feinsinnig bricht die Autorin Kilter dabei die Perspektiven, spielt ironisch mit ihnen, wenn sie parallel die eigene Inszenierung zum Thema macht und durch ein „Theaterpublikum“ diskutieren lässt, was im Leben der Autorin wohl schief gegangen sei. Oder einen Chor pointiert die sogenannte deutsche Mehrheitsgesellschaft besingen lässt.

„Was ist typisch deutsch? Dass Deutsche sehr gerne darüber sprechen, dass sie nichts gegen Ausländer haben?“, kommentiert die Stücke-Jury Kilters „White Passing“ und lobt deren „geistreiche oder freche Beobachtungen, Behauptungen, Zuschreibungen“. Erst lache man noch über Deutschland und die Deutschen, auch über sich selbst, freue sich über die eigene Fähigkeit zur Selbstironie. „Doch je länger die Liste wird und je beharrlicher sie sich fortgesetzt, desto schwerer fällt das Lachen.“

„Mutter Vater Land“ in der Inszenierung des Theater Bremen startet am Mittwoch, 25. Mai, um 19.30 Uhr im Ringlokschuppen, Am Schloß Broich 38.

„White Passing“ (Schauspiel Leipzig) beginnt am Donnerstag, 26. Mai, um 18 Uhr in der Stadthalle, Theodor-Heuss-Platz 1. Karten gibt es jeweils ab 24 Euro. Es gilt die 3G-Regel. Infos und Karten unter www.stuecke.de

Zu den Autoren

Akın Emanuel Şipal ist 1991 in Essen geboten und studierte Film an der Hochschule für bildende Künste Hamburg. Mit seinem ersten Stück „Vor Wien“ gewann er 2012 den Wettbewerb „In Zukunft“.

Neben Theaterstücken schreibt er Drehbücher für Kurz- und Langfilme, die auf internationalen Festivals zu sehen sind, darunter das Festival des Films du Monde de Montreal, das Shanghai International Film Festival oder das Cairo International Film Festival. Von 2017 bis 2019 war er Hausautor am Theater Bremen.

Sarah Kilter studierte von 2016 bis 2020 „Szenisches Schreiben“ an der Universität der Künste Berlin. Seit 2020 arbeitet sie als freiberufliche Autorin.

Neben Theaterstücken schreibt sie Hörspiele und Drehbücher. Ihre Stücke waren als Werkstattinszenierungen am Hans Otto Theater in Potsdam, am bat-Studiotheater und in der Box des Deutschen Theaters Berlin zu sehen. „White Passing“ war eines der drei Gewinnerstücke der Autor:innentheatertage 2021 des Deutschen Theaters.