Mülheim. Stell Dir vor, fetter Erbe kann jeder werden: per Los! Mülheims Stücke eröffneten jetzt rasant - mit der tiefgründigen Komödie „Jeeps“.

Bildschirm aus, Vorhang auf! Nach zwei der Corona-Pandemie geschuldeten Online-Jahrgängen gehen die Mülheimer Theatertage und der „Stücke“-Wettbewerb um den besten im Vorjahr uraufgeführten deutschsprachigen Theatertext endlich wieder analog.

Doch: Was für fast alle Bühnen landauf, landab gilt, trifft auch auf die Theatertage zu. Das Publikum hat sich in der langen Phase erzwungener Abstinenz teilweise umorientiert, hat in Zeiten der Planungsunsicherheit andere Prioritäten gesetzt, neue Interessen entdeckt und muss fürs Theater erst wiedergewonnen werden.

Mülheims traditionsreicher Dramatikerwettbewerb „Stücke“ ist eröffnet

Bei der Präsentation von Nora Abdel-Maksouds aberwitziger Komödie „Jeeps“ in der bemerkenswert gut besuchten Stadthalle war von mangelndem Zuschauerinteresse allerdings nicht viel zu spüren. Dem Start in das Rennen um den „Mülheimer Dramatikpreis“ vorausgegangen war ein kleiner Sektempfang mit Eröffnungsworten von Mülheims OB Marc Buchholz und NRW-Kultur-Staatssekretär Dirk Günnewig in Vertretung von Ministerin Isabel Pfeiffer-Poensgen. Und es gab die real nachgeholte Preisverleihung an Ewe Benbenek, die mit „Tragödienbastard“ im Vorjahr virtuell als Siegerin aus den digitalen Theatertagen hervorgegangen war.

Die Münchner Autorin Abdel-Maksoud, die ihre Auftragsarbeit selbst an den Münchner Kammerspielen eingerichtet hat, treibt in ihrer pointensprühenden Umverteilungs-Komödie ein Thema auf die satirische Spitze und darüber hinaus. Über die titelgebende Fahrzeug-Klasse „Jeeps“ (schwere, nicht eben energie- und umweltfreundliche SUV) stellt sie eine verrückte Klassen-Frage, und für deren Beantwortung ist ausgerechnet der deutsche Amtsschimmel zuständig. Genau: Das Jobcenter, ehemals Arbeitsamt, in dem sich nicht mehr nur die Erwerbslosen, sondern jetzt auch die Erbschaftslosen die Klinke in die Hand geben.

„Jeeps“ eröffnet Mülheims Stücke, eine satte, kritische Komödie über Umverteilung

Spot an! 400 Milliarden Euro werden jährlich in Deutschland vererbt, jedes fünfte Kind ist arm, skizziert Sachleiter Leistungsabteilung Armin (Stefan Merki) die Ausgangslage und erläutert die Erbrechtsreform. Privatvermögen geht nicht länger an die klassischen Erben über, sondern wird vom Staat bis zur Neuverteilung beschlagnahmt. Wer etwas haben will, muss im Jobcenter eine Warte-Nummer ziehen und darauf hoffen, dass ihm Fortuna in Gestalt von Armin oder dessen Kollegen Gabor (Vincent Redetzki) das große Erb-Los beschert und nicht nur eine Niete, geschweige denn Schulden.

Darauf hofft auch die jäh enterbte Jungunternehmerin Silke (Gro Swantje Kohlhoff), während die langzeitarbeitslose Groschenromanautorin Maude (Eva Bay) vergeblich um eine Erhöhung ihrer Hartz-IV-Bezüge um acht Euro kämpft, weil der 1,12 Euro Bildungs-Regelsatz pro Monat vorn und hinten nicht reicht und die „Gut-und-billig-Aufbackbrötchen“ für 4,86 Euro einfach nicht schmecken wollen.

Brillant setzen die Schauspieler den rasanten Wechsel von Aspekten und Sichtweisen um

Ohne Requisiten und auf kahler Vorbühne mit zwei Drehtüren in der Rückwand, die freilich großartige Slapstick-Momente ermöglichen, bleibt den vier exzellenten Darstellern nur die Sprache, nur das Wort. Was hier, einer einschlägigen TV-Show nicht ganz unähnlich, in blitzschnellen Blenden, Reprisen, Neuentwicklungen oder Änderungen von Aspekten und Betrachtungsweisen abläuft, das ist bitterböse, umwerfend komisch, grotesk, traurig, perfide intelligent.

Bei dem eingeschlagenen Tempo ist es nicht ganz leicht, allen Gedankensplittern zu „Altruismus versus Egoismus“ hundertprozentig zu folgen. Eine Feststellung allerdings, von der keineswegs verarmten Erblosen Silke gemacht, bleibt in Erinnerung: „Man hat ja so ne Art Empathie-Radius. Der ist verhältnismäßig klein, weil, wenn er größer wäre, würde man durchdrehen.“

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Vor der Eröffnung der Stücke 2022 gab es eine Erinnerung an den letzten Jahrgang. Es gab die real nachgeholte Preisverleihung an Ewe Benbenek, die mit „Tragödienbastard“ 2021 virtuell als Siegerin aus den digitalen Theatertagen hervorgegangen war.

Weiter mit den um den Dramatikerpreis buhlenden Werken geht es am 12. und 13. Mai mit „Wounds are forever“ von Sivan Ben Yishai. Tags darauf folgt Teresa Doplers „Monte Rosa“. Am 19. wird „All right. Good night“ vom Rimini-Protokoll gezeigt. Elfriede Jelineks „Lärm. Blindes Sehen. Blinde sehen!“ folgt am 22. Mai. Den Schluss bilden am 25./26. Mai Akın Emanuel Şipals „Mutter Vater Land“ und Sarah Kilters „White Passing“. Details zu Karten und Zeiten: www.stuecke.de