Mülheim. Eine neue Ausstellung in der Mülheimer Wolfsburg zeigt emotionale Fotos und Texte und fragt: Bleibt der Mensch trotz Pandemie ein soziales Wesen?
Ein neugierig leuchtendes Paar Kinderaugen, ein verzückter Mund, pure Geschwisterliebe – es ist der allererste Moment, in dem Carla Paschy ihren neugeborenen Bruder Tijan sehen darf. Jedoch nicht in einem Krankenhauszimmer, sondern auf dem Parkplatz vor der eigenen Wohnung. Der Fotograf Andreas Teichmann hat sich während des Lockdowns 2020 mit seiner Kamera auf die Suche gemacht, nach emotionalen Augenblicken, nach dem Menschen als soziales Wesen.
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„Die Geburt in der Corona-Zeit ist eine Geschichte des Wartens“, steht deshalb neben seiner schwarz-weißen Fotografie, die mit vielen anderen Szenen in der neuen Ausstellung der Mülheimer Wolfsburg zu erleben sind. Den Zwiespalt der Pandemie hat Teichmann aufgefangen und gegenüber gestellt: So sieht man in direkter Nähe die Beerdigung von Natalia D. schmerzverzerrte Gesichter, Tränen in den Augen der Familienangehörigen, alle trauernden Gäste tragen Masken. „Das Dilemma ist, den Trauernden die wechselnden Bestattungsregeln rational zu vermitteln“, besagt der Text daneben.
Bleibt der Mensch trotz Lockdown ein soziales Wesen, fragt die Ausstellung
Wie wirken sich Lockdown und Abstandsregeln auf das soziale Wesen „Mensch“ aus? Um der Antwort näher zu kommen, sind die Fotografien von Teichmann begleitet durch Texte, Zitate und Tonaufnahmen der fotografierten Personen.
Die Journalistinnen Kerstin Wördehoff und Liliane Zuuring haben ein Jahr nach den Fotoaufnahmen, im Frühjahr 2021, mit den Porträtierten darüber gesprochen, wie sich ihr Leben über das letzte Jahr seit und mit Corona verändert hat. So bekommt der Betrachter noch mehr emotionale Einblicke in die Geschichten der Personen.
Die multimediale Ausstellung samt Fotos und Texte ist seit Montag zu sehen in der katholischen Akademie „Die Wolfsburg“ und der Bank im Bistum in Essen. „Wir haben uns für diese Ausstellung entschieden, da sie thematisch sehr den Themen, die wir auch in unserem Programm behandeln, entspricht“, erläutert Maria Kindler, Pressesprecherin der Wolfsburg.
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„Egal, wo ich fotografiert habe, das soziale Miteinander war überall spürbar“
Andreas Teichmann ist sich sicher, mit der Ausstellung die Antwort auf seine Leitfrage gefunden zu haben: „Ja, die Menschen werden immer soziale Wesen sein. Egal wo ich fotografiert habe, das soziale Miteinander war überall spürbar.“
Und das sieht man auch in seinen Werken: Ein Mädchen, welches resigniert auf dem Sofa sitzt und das Fastenbrechen nur im engsten Familienkreis feiern kann, ein hoffnungsvolles Zuwinken durch eine Glasscheibe, ein digitaler Gottesdienst – alle scheinen die Gemeinschaft zu vermissen und versuchen mit sämtlichen Mitteln, diese trotz des Lockdowns aufrecht zu erhalten.
Das hat auch Kerstin Wördehoff gemerkt: „Nirgends ist die Hoffnung verloren gegangen, niemand war pessimistisch. Egal mit wem ich gesprochen habe, immer wieder hieß es: Es wird wieder gut werden, wie müssen nur zusammenhalten.“
Die Fotografien sind bewusst nicht inszeniert, die Emotionen sind echt
Doch wie kam überhaupt die Idee für ein solches Projekt? „Die ist auch auf Initiative meiner Familie entstanden“, erinnert sich Andreas Teichmann. Im ersten Lockdown hatte er viel Freizeit. „Papa, du musst mal wieder etwas machen, statt nur zuhause rumzusitzen“, hörte er damals von seinen Kindern. Und so kam ihm die Idee, mit der Kamera zu untersuchen, wie sich Menschen im Lockdown verhalten und ob sie sich verändern.
Er machte sich auf die Suche nach Personen, die er fotografieren könnte. „Ich habe viel rumgefragt, in Altenheimen, Kindergärten, Krankenhäusern oder dem Bistum Essen“, erzählt Teichmann. Mit der Zeit kamen mehr und mehr Leute auf ihn zu. Die Fotografien sind nicht inszeniert, er selbst habe sich bei den Situationen immer im Hintergrund gehalten. „Die Themen, welche ich abbilden wollte, waren vorher klar, die Foto-Momente entstehen aber erst in der Situation.“
Die Mimik der Personen in all den Werken wirkt so nahbar und echt
Das ist auch der Grund, weshalb die Mimik der Personen in all seinen Werken so nahbar und echt wirkt – denn genau das ist sie auch. 41 Fotografien sind so entstanden. Doch nur die Fotos reichten Teichmann noch nicht. „Ich habe mich gefragt: Wie könnte das Projekt weitergehen?“
Deshalb hat er sich auf die Suche nach Textern gemacht und Kerstin Wördehoff und Liliane Zuuring gefunden. Die beiden Frauen waren direkt begeistert von der Idee: „Das ganze Projekt ist so emotional, da steckte so eine Substanz hinter“, fand Kerstin Wördehoff. In ihrer Freizeit haben sie sich viel Zeit für die Gespräche genommen und anschließend Texte geschrieben. „Das Thema weckte bei uns Leidenschaft“, erinnert sich Wördehoff. „Jede einzelne Geschichte war für sich intensiv, berührend und besonders“, so Liliane Zuuring.
Sie war überrascht, wie gut man auch über Zoom so private Gespräche führen konnte, alle Personen seien sehr offen gewesen. „Das Tolle an der Ausstellung ist, dass jeder sich in irgendwo wiederfinden kann“, findet Zuuring.
Erstes Wiedersehen mit der Krankenschwester nach drei Monaten Intensivstation
Ausstellung ist auch online zu sehen
Die Ausstellung ist bis Anfang 2022 in der Wolfsburg am Falkenweg 6 zu sehen. Öffnungszeiten: Montag bis Samstag 9-18 Uhr und an Sonntagen 9-14 Uhr.
Eintritt frei, eine Anmeldung ist für die Besichtigung nicht notwendig. Beim Einlass in die Wolfsburg gilt die 3G-Regel: Besucher müssen geimpft, genesen oder getestet sein.
Ein Handy mitzunehmen ist sinnvoll, denn Tonaufnahmen mit Zitaten der Porträtierten können über einen QR-Code abgerufen werden.
Ende des Jahres soll ein Buch mit allen Fotos und Texten der Ausstellung erscheinen. Auch online können die Werke von Andreas Teichmann betrachtet werden: www.dermenschbleibteinsozialeswesen.de
So gibt es auch bei der Eröffnung der Ausstellung am vergangenen Sonntag einen ganz besonderen Moment, ein emotionales Wiedersehen: Kenan Demir, welcher letztes Jahr an Corona erkrankte, trifft zum ersten Mal seit seiner Entlassung aus dem Krankenhaus wieder auf seine damalige Krankenschwester, Jessica Soyk. Sie arbeitet auf der Intensivstation des Uniklinikum Essen und hatte Kenan Demit, der im Koma lag und schwere Atemnot hatte, drei Monate lang versorgt.
Beide wurden für die Ausstellung porträtiert. Das Wiedersehen ist emotional, Jessica Soyk treibt es die Tränen in die Augen, ihren ehemaligen Patienten wieder auf zwei Beinen zu sehen. Man spürt die gegenseitige Dankbarkeit, sich nach der schweren Zeit im Krankenhaus noch einmal wieder zu sehen. Sie wirken direkt vertraut miteinander. „Es ist total schön und ergreifend für mich. So etwas hat man sonst nicht, meistens sehe ich die Patienten nie wieder und weiß nicht, wie es ihnen nach der Entlassung geht“, so Jessica Soyk.
Völlig gesund ist Kenan Demit zwar nach einem Jahr immer noch nicht, aber das Schlimmste ist geschafft. „Ich versuche so weiterzuleben, wie vor meiner Krankheit. Angst habe ich nicht“, erzählt er. Kenan Demir und Jessica Soyk sind nur ein Beispiel der vielen Personen in der Ausstellung, die alle dasselbe zeigen: „Der Mensch hat gar keine andere Chance, als ein soziales Wesen zu bleiben“, so Liliane Zuuring. Andreas Teichmann ergänzt: „Wir alle brauchen Nähe, wir müssen sie momentan nur anders zeigen.“